Virtuosity - Liebe um jeden Preis
Jazz-Violinisten.«
»Vielleicht. Aber keiner will so einer sein.«
»Was für einer?«, fragte ich, obwohl ich genau wusste, wovon er sprach.
»Einer, dem man vorwirft, die klassische Musik zu verunreinigen, um einem größeren Publikum zu gefallen.«
»Ach, so einer.«
Wir wussten beide über die Regeln Bescheid. Das Geschäft der klassischen Musik wird von Snobs bestimmt, und Musiker, die ihr Image etwas aufmöbeln wollen, werden nicht ernst genommen, selbst wenn es wirklich nur um ihr Image geht. Selbst wenn sie einfach mal etwas wie Jazz ausprobieren möchten. Wir haben Agenten und Manager, Plattenverträge mit großen Firmen, Lehrer und Mentoren, die alle dafür sorgen, dass wir keine Dummheiten begehen, wie zum Beispiel in einem Jazzclub in Chicago zu spielen.
»Ach, ich weiß nicht. Ich finde, du solltest vielleicht mal gegen den Strom schwimmen. Wie wäre es, wenn du auf deiner nächsten CD halb Countrymusik aus den Südstaaten und halb New-Age-Musik aufnimmst? Auf dem Cover könntest du eine Latzhose tragen und eine Yoga-Pose einnehmen.«
»Klar doch. Und dir würde ich für deine nächste CD empfehlen, nur Lieder von Metallica einzuspielen. Für das Cover könntest du im Bikini auf einer elektrischen Geige spielen.«
»So, erzähl mir mal, was du über klassische Musik weißt«, wechselte ich schnell das Thema.
»Na schön, also keinen Bikini.«
Inzwischen war eine Frau mit einer Querflöte in der Hand auf die Bühne gekommen. Sie saß mit geschlossenen Augen auf einem Hocker, nickte mit dem Kopf und ließ ihren gesamten Körper im Takt der Musik schaukeln. Der Schlagzeuger schien mit seinen Trommeln zu tanzen, hörte aber vor allem der Klaviermelodie zu. Ich hätte die ganze Nacht sitzen bleiben können.
Als ich meine Augen öffnete, sah Jeremy mich gerade an.
»Hast du Hunger?«, fragte er.
»Plötzlich ja. Ist das Essen hier gut?«
»Richtig gut.«
Auf seine Empfehlung hin bestellte ich gebratene Ravioli, er nahm Jakobsmuscheln in Avocadosauce und wir teilten uns mit Gorgonzola gefüllte Pilze.
»Ich hab den Laden hier übers Internet gefunden«, erklärte Jeremy zwischen den Bissen. »Mir wurde plötzlich klar, dass ich einige Wochen in Chicago verbringen würde, also habe ich im Internet recherchiert, damit mir nicht langweilig wird – habe ich dir schon erzählt, dass Al Capone früher hier rumhing?«
»Im Ernst?«
»Ja wirklich, der Club gehörte damals Gangstern«, antwortete er und deutete auf die Schwarz-Weiß-Fotografien an den Wänden.
»Möchtest du mal meine Ravioli probieren?«, bot ich an.
»Gern. Und du probier meine Jakobsmuscheln.«
Mit der Gabel langte ich auf seinen Teller. »Ist es nicht komisch, so ganz allein in Chicago zu sein?«
»Nein. Ich war schon öfter allein auf Tournee. Ist gar nicht so schlecht. Ich finde coole Sachen wie den Club hier, was wahrscheinlich nicht ginge, wenn jemand auf mich aufpassen würde.«
»Meine Mutter geht immer mit mir auf Tournee«, erwiderte ich. »Es macht Spaß mit ihr, aber sie ist mehr eine Museum-Botanischer-Garten-Wellness-Reisende. Nichts wie das hier.« Ich wedelte mit der Gabel in der Luft. »Fühlst du dich nicht manchmal einsam?«
»Manchmal. Jetzt nicht.« Seine Augen lächelten.
Plötzlich tauchte das Bild vor meinem geistigen Auge auf, wie er Freitag auf die Bühne gekommen war – arrogant, missmutig und unhöflich. Jetzt war er so vollkommen anders. Das hier musste der echte Jeremy sein.
Oder vielleicht nicht?
»Jetzt bist du mir was schuldig«, sagte er.
»Wie kommt’s?«
»Du weißt jetzt etwas über mich, das fast niemand sonst weiß – das mit dem Jazz, meine ich. Du schuldest mir eine Info, die ich nicht in deiner Vita finden kann oder falls ich dich googele.«
»Du googelst mich?«
»Ich habe falls gesagt. Und du wechselst schon wieder das Thema.«
Ich legte die Gabel auf den Teller. Dort lag noch ein Stück Ravioli, aber ich war zu satt. Was könnte ich ihm über mich erzählen? Alles über mich, das nicht mit dem Geigespielen zu tun hatte, schien furchtbar lahm. »Mein Stiefvater und ich joggen zusammen«, platzte es aus mir heraus.
Er saß geduldig da und wartete offensichtlich darauf, dass ich mehr dazu sagte.
»Aus irgendeinem Grund akzeptiert er nicht, dass die Geige mein Leben bestimmt und versucht ständig, mich für andere Dinge zu interessieren. Also laufen wir zweimal pro Woche sechs oder sieben Meilen und manchmal sogar zehn. Eigentlich wollten wir im Juni zusammen einen
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