Virtuosity - Liebe um jeden Preis
eingeflüstert hatten, verwandelten sich wie durch Zauberhand zu dem, was sie schon immer gewesen waren. Staub. Geschichten. Ich mogelte. Vielleicht hatte ich es schon immer gewusst, aber es spielte jetzt keine Rolle mehr, weil ich die Tabletten nie mehr nehmen würde. Schließlich hatte ich es gestern Abend auch ohne sie geschafft, oder etwa nicht? Der Guarneri-Wettbewerb wäre die Hölle ohne sie, aber es musste so sein. Als Jeremy davonerzählt hatte, wie er sich bei einem Auftritt fühlte, hatte sich etwas in mir gelöst, etwas, das ich schon immer gewusst, aber vergessen hatte. Nerven zu haben ist normal. Echte Musiker lernen mit ihnen umzugehen.
Ich sah auf die Bühne, wo die Musik aufgehört hatte. Die Sängerin war dabei die Bühne zu verlassen. Mit zwei Fingern warf sie einen Kuss in die Menge.
Die Leichtigkeit, die ich den ganzen Abend gespürt hatte, war verflogen. Sie war mir irgendwo zwischen den Jazz-Combos und dem Gespräch über Lampenfieber abhandengekommen. Ich wünschte mir, ich könnte meinen Kopf gegen Jeremys Brust lehnen und er würde mich umarmen und mir sagen, dass nächste Woche nicht in einer Katastrophe enden würde.
Die Bedienung kehrte zu unserem Tisch zurück, räumte unsere Teller ab und füllte unsere Getränke nach. »Dessert?«, fragte sie und ließ die Karte auf dem Tisch liegen, ehe wir ablehnen konnten.
»Sollen wir uns ein Tiramisu teilen?«, schlug Jeremy vor.
»Weiß nicht. Wie spät ist es denn?«
Jeremy sah auf seine Uhr. »Halb zwei.«
»Ich muss nach Hause.«
Jeremy nickte, sah mich aber nicht an. Er spürte es auch. Etwas hatte sich geändert.
»Sie sehen so frei aus«, sagte ich und deutete auf die Musiker auf der Bühne.
»Stimmt.«
»Es tut mir leid«, fuhr er fort. »Ich habe gar nicht gemerkt, wie spät es schon ist. Bekommst du jetzt Ärger mit deinen Eltern?«
Ich schüttelte den Kopf.
Er bezahlte und wir drängelten uns zurück durch die Menge bis zum Ausgang.
Mir war nicht aufgefallen, wie wärmend der Rauch und Jazz waren, bis Jeremy die Tür zur Straße öffnete und mich der eisige Wind durchfuhr.
Ehe ich noch meinen Mund öffnen konnte, um mich zu beschweren, zog Jeremy schon seinen Pullover aus.
»Dir wird kalt …«, begann ich, aber es klang so wenig überzeugend, dass ich verstummte. Nur mit einem schwarzen T-Shirt bekleidet winkte er ein Taxi heran, während ich seinen Pullover überzog.
»Was ist los?«, fragte er, als wir im Taxi saßen und zog mich an sich. Sein Körper fühlte sich warm gegen meinen an und mein Zittern schmolz dahin. »Habe ich was Falsches gesagt?«
»Nein. Ich bin nur traurig. Ich glaube, ich möchte gern mehr, als ich haben kann.«
Er starrte stumm aus dem Fenster und seine Augen folgten den Lichtern der Gebäude, an denen wir vorbeikamen.
Als wir dieses Mal vor meinem Haus anhielten waren die Fenster genau so, wie sie sein sollten – so schwarz wie der Nachthimmel. Diana und Clark waren entweder noch unterwegs oder sie schliefen schon. Es war Zeit auszusteigen, aber Jeremy ließ mich nicht los.
»Sei nicht traurig«, flüsterte er mir ins Ohr. »Sieh mich an.«
Ich gehorchte.
»Du bist zu sehr daran gewöhnt, alles der Musik zu opfern«, sagte er. »Aber wir wollen das hier doch beide, oder nicht?«
Ich schenkte ihm mein strahlendstes Lächeln. Wir können nicht beides haben!, hätte ich am liebsten geschrien. Wir können nicht beide gewinnen. Stattdessen lehnte ich mich vor und legte meine Lippen auf seine. Der Kuss war anders als der erste. Weniger überraschend. Sehnsuchtsvoller. Weniger wie ein Traum. Verzweifelter.
Und als ich dieses Mal aus dem Taxi stieg, war er derjenige, dem der Atem wegblieb.
Kapitel 12
»Ich habe Heidi gesagt, dass du dir die nächsten zwei Wochen freinimmst«, meinte Diana am nächsten Morgen, als ich mit meinem Französischbuch in der Hand an den Küchentisch kam.
»Was? Wieso denn?«
Ich bekam keine Antwort auf meine Fragen, es sei denn, eine hochgezogene Augenbraue und ein Nippen an der Kaffeetasse zählten. Nach dem Prinzip machte Diana das immer: Wenn du eine dumme Frage stellst, kannst du sie dir selbst beantworten .
Ich warf das Buch auf die Arbeitsplatte. Ich musste Heidi unbedingt sehen, damit ich sie dazu überreden konnte, für Mittwochabend mein Alibi zu sein.
Ehe sich Diana wieder dem Reiseteil ihrer Zeitung zuwandte, deutete sie kurz auf die Blaubeer-Pfannkuchen, die auf der Anrichte bereitstanden. »Clark hatte heute Morgen häusliche
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