Virulent
Marcellus Ridder den Wagen am Tatort in der Orleans Street ausrollen ließ. Scheinwerfer beleuchteten den verwischten Schnee.
Schnee mit gefrorenen roten Streifen. Streifen, die zu einem Zaun und den Bäumen dahinter führten. Und unmittelbar hinter einem Riss im Zaun zwei Körper – ein Schwarzer und ein Weißer.
Keiner der beiden bewegte sich.
Ridder parkte den Streifenwagen und griff nach dem Headset für die Funkverbindung. »Hier Adam-Twelve. Wir überprüfen die Berichte über einen Leichenfund in der Orleans Street«, sagte er. »Wir haben zwei reglose Personen. Schicken Sie unverzüglich einen Notarzt sowie Verstärkung. Wir untersuchen den Tatort.«
Ein zehn Jahre alter Junge hatte den blutigen Schnee gesehen und die Leichen gefunden. Er war zu einer Tankstelle gegangen und hatte die Polizei benachrichtigt. Was ein Zehnjähriger hier um vier Uhr morgens machte, wollte Sanchez nicht wissen. In dieser Gegend gab es nicht sehr viele Eltern, die ihre Kinder konsequent im Auge behielten.
Ridder steckte das Headset in die Halterung zurück. Mit gezogenen und auf den Boden gerichteten Waffen stiegen die beiden aus dem Wagen. Ridder ging hinter der offenen Fahrertür in die Hocke, Sanchez hinter der offenen Beifahrertür.
»Polizei! Keine Bewegung!« Sanchez schrie mit seiner lautesten Cop-Stimme. »Bleiben Sie, wo Sie sind! Wenn Sie mich hören können, bewegen Sie Ihren rechten Fuß!«
Den meisten Leuten wäre diese Vorsicht wahrscheinlich lächerlich vorgekommen, denn die beiden Männer sahen sehr,
sehr tot aus, doch so viel Blut bedeutete Waffen, wahrscheinlich Schusswaffen, und die Polizei von Detroit würde sich bei so etwas keine Nachlässigkeiten erlauben. Jeder der beiden Männer konnte sich innerhalb von Sekunden aufrichten und das Feuer eröffnen.
»Ich sagte, bewegen Sie Ihren rechten Fuß!«, schrie Sanchez. So lief es auch sonst meistens ab – Ridder kümmerte sich ums Fahren, Sanchez ums Schreien. Jeder ganz nach seinen besonderen Fähigkeiten.
»Wir müssen nachsehen«, sagte Sanchez. »Bereit?«
»Bereit«, antwortete Ridder.
»Ich nehme den Weißen links. Los!«
Sanchez schob sich um die Wagentür herum und ging auf den am Boden liegenden Weißen zu. Noch immer hielt er die Waffe auf den Boden gerichtet, doch sie zeigte ein wenig nach vorn, sodass er sie nur ein paar Zentimeter weit anheben musste, sollte der Mann plötzlich seinerseits eine Waffe ziehen.
Die Leiche des weißen Mannes war übergewichtig, hatte einen roten Bart voller kleiner Eiszapfen und starrte mit leeren, braunen Augen ins Nichts. Die Augen standen offen, weil sie gefroren waren. Auf der rechten Seite seines Halses befand sich ein kleines blutiges Loch. Sein Hemd war mit steif gefrorenem Blut durchtränkt, vor allem am Kragen.
Überall lagen noch immer verpackte Big Macs herum.
Ridder ging neben dem Schwarzen in die Hocke.
»Er ist tot«, sagte Ridder. »Kein Puls, fühlt sich kalt an.«
Sanchez schob die Hand vor, um seinerseits nach dem Puls zu fühlen. Seine Finger tasteten den Hals des dicken Mannes unter dem Bart ab. Die Haut war kalt und fest, aber noch nicht steif. Die Leiche des Mannes war noch nicht vollständig
gefroren. Sanchez ertastete den Rand des Kiefers und drückte von unten dagegen.
Ein Geräusch wie ein schwaches Husten.
Das Gefühl, als hätten seine Finger etwas aufgedrückt – eine kleine Blase.
Eine dünne graue Wolke stieg unter dem Bart des Mannes auf und wehte davon.
Erst dann konnte Sanchez sie erkennen – die kleinen Blasen am Hals der Leiche, an den Händen und sogar ein paar auf der Stirn. Er hatte eine zum Platzen gebracht, und dieses graue Pulver schoss heraus und trieb durch die Luft wie feiner Blütenstaub.
»Oh fuck«, stieß er aus. »Was für eine Scheiße ist denn das?«
Er wich vor der Leiche zurück, den linken Arm gebeugt, die linke Hand vom Körper weggestreckt. Er schüttelte heftig den Arm und schnippte mit den Fingern. Die pudrige Substanz flog von seiner Haut weg und trieb durch die Luft.
Ridder sah ihn an. »Scheiße, was ist passiert, Chez?«
»Der Kerl hat Blasen«, sagte Sanchez. »Anscheinend habe ich eine angefasst. Sie ist aufgeplatzt wie Springkraut oder so. Völlig krass.«
Er schob seine Pistole in das Holster zurück. »Hol den Erste-Hilfe-Koffer. Oh Mann, das ist so widerlich. Dieses verdammte Arschloch hatte wahrscheinlich Aids. Es sieht aus wie beschissene Aids-Blasen. Ich hätte Handschuhe anziehen sollen.«
Ridder rannte zum
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