Virus (German Edition)
ein Abbruch für Deutschland bedeuten würde.
Schließlich war man
übereingekommen, die Beendigung des Gipfels überlegt einzuleiten und nicht zu
überstürzen. Unter keinen Umständen durfte durchsickern, dass die Morde für den
Gipfelabbruch verantwortlich waren, denn damit würde man dem Mörder exakt die
Bühne bauen, die er sich wünschte. Vielmehr musste man subtil vorgehen und
dabei die Kooperation der übrigen Regierungschefs einfordern.
Man würde eine Meldung an die
Presse lancieren, dass eine große Einigkeit unter allen teilnehmenden Staaten
unerwartet schnelle Fortschritte in den Gesprächen schaffe. Anschließend würden
einzelne Regierungschefs zu wichtigen Aufgaben in ihre Heimatländer gerufen
werden. Aufgrund des unerwartet schnellen Abschlusses der Gespräche wäre eine
frühzeitige Beendigung des Gipfels dann kein Problem, und die Politiker könnten
sich den Aufgaben in ihrer jeweiligen Heimat zuwenden.
Wichtig war, dass die offizielle
Bezeichnung ‚frühzeitiger, erfolgreicher Abschluss’, und nicht ‚Abbruch’ war.
Bruncke war heilfroh, das
Gespräch mit dem Minister hinter sich gebracht zu haben. Doch ein Fakt war nun
unumstößlich. Dieser G8-Gipfel in Deutschland würde der erste in der Geschichte
sein, der vorzeitig abgebrochen wurde. Ganz gleich, wie die offizielle
Bezeichnung lautete.
78.
Zum ersten Mal seit dem Tod
Natalias betrat Holger seine Kirche außerhalb eines Gottesdienstes.
Der schlichte Bau aus rotem
Backstein war nicht viel mehr als ein großer Raum mit angrenzendem Glockenturm.
Das Innere war mit hölzernen Kirchenbänken bestuhlt, allerdings ohne
Gebetsbänke, denn Protestanten knieten zum Beten nicht nieder. Ein einfacher Tisch
aus Sandstein diente als Altar, dahinter hing ein bronzenes Kreuz an der
rückwertigen Wand, wie in jeder evangelischen Kirche ohne den leidenden Jesus.
Dominiert wurde der Raum durch die wuchtigen Orgelpfeifen, die an der
seitlichen Wand in einen Rahmen aus hellem Holz eingefasst waren. Ein
schlichtes Taufbecken aus dunklem Stein nahe dem Altar stellte das letzte Möbel
der rudimentären Einrichtung dar.
Die evangelischen Kirchen teilten
das Geld, das sie aus Kollekten, Steuern und Spenden einnahmen, lieber mit den
Armen und Hungernden, als es in Kirchenkunst zu investieren. Schließlich zeigte
sich ein guter Christ in seinem Handeln und nicht im Bau prätentiöser
Gotteshäuser und im Verprassen von Geldern.
Debbie war nach dem Frühstück auf
ihr Zimmer zurückgekehrt, um zu duschen. Anschließend wollte sie erneut ins
virologische Institut nach Rostock fahren, um weitere Untersuchungen an dem
SARS-Virus durchzuführen. Holger konnte ihr dabei ebenso wenig helfen wie er
Driver im Moment bei den Ermittlungen unterstützen konnte. Die Suche nach
vermissten Virologen würden die CIA-Computer übernehmen, für Holger gab es da
nichts zu tun. Zudem war bis zur Nacht sowieso nicht mit einem weiteren Mord zu
rechnen. So also hatte er sich entschlossen, seine Kirche aufzusuchen, um über
das nachzudenken, was Debbie ihm am Vortag gesagt hatte.
Früher war er häufig alleine
hierhergekommen, um zu reflektieren. Selten jedoch, um zu beten, denn Holger
hatte stets die Ansicht vertreten, ein guter Christ zeige sich in seinem
Handeln und nicht in seinem Gebet.
Er ging durch die Reihen der
Bänke zum Altar und strich mit der Hand darüber, als könne eine körperliche
Berührung ihm Nähe zu Gott geben. Doch das Gefühl der Nähe blieb aus. Kein
Wunder, denn Gott gab es nicht. Er blickte hinüber zum Taufbecken zu seiner
Rechten. Wie viele Menschenkinder hatte er hier zu Christen gemacht? Wie vielen
Menschen hatte er Glauben an einen Gott geschenkt, der nicht existierte, die
große Lüge des Petrus eingeträufelt?
Er ging zu der ersten Bankreihe
und setzte sich. Eine unbeschreibliche Stille umgab ihn, doch es war keine
bedrückende Stille, sondern eine himmlische Ruhe – nicht im Sinne von göttlich,
sondern einfach nur himmelweit entfernt von den aufgeregten Geräuschen der modernen
Welt.
Seit zwei Jahren hatte er diese
Ruhe nicht genossen. Wenn er die Kirche kurz vor den Gottesdiensten betreten
hatte, waren immer bereits Menschen hier gewesen, wenn auch in abnehmender
Zahl. Ganz alleine war er seit Natalias Tod nicht mehr hier gewesen. Vieles
hatte er seitdem nicht mehr gemacht, Vieles, was ihm früher Freude bereitet
hatte.
Er musste wieder anfangen zu
leben und das konnte er nur, wenn er wieder anfing, Freude zu empfinden. Was
hatte ihm
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