Virus (German Edition)
Somniak
erneut, diesmal mit einem leichten Zischen.
„Natürlich geht er von falschen
Voraussetzungen aus”, fuhr Holger unbeirrt fort. „Weder gibt es eine messbare
Entfernung zwischen Erde und Himmel noch ist unser Planet der Mittelpunkt des
Universums. Doch es zeigt, dass selbst christliche Gelehrte nicht an den
Turmbau und die Sprachverwirrung glauben.”
„Kircher war ein Ketzer!” brüllte
Somniak plötzlich und mit Wahnsinn im Blick, während er von seinem Stuhl aufsprang.
Mit einem einzigen Satz war der schrankformatige Polizist von der Tür bei
Somniak, drehte ihm seine sowieso auf dem Rücken gefesselten Arme zwischen die
Schulterblätter und zwang ihn zurück auf seinen Stuhl. Ohne den geringsten
Ausdruck von Schmerz beugte sich Somniak dem kräftigen Griff.
„Da bleibst du jetzt sitzen,
Arschloch”, herrschte der Polizist ihn an. Herforth gestikulierte ihm, sich zu
beruhigen und seinen Platz an der Tür wieder einzunehmen. Offenbar hatte der
Gedanke, sich mit einem Serienkiller in diesem engen Raum zu befinden, seinem
Nervenkostüm durchaus zugesetzt.
Holger blickte Somniak an, der
noch leicht ob der Erregung über seine provokante Auslassung schnaufte. Doch
seltsam schnell glitt der Killer wieder in seine alte, aufgesetzte
Ausdruckslosigkeit zurück, wobei er etwas Manisches, Obsessives nicht restlos aus
seinem Blick zu verdrängen vermochte.
„Kommen wir zurück zur
Babylonischen Sprachverwirrung”, nahm Holger das Verhör wieder auf. „Ihre
Meinung zu den Forschungen der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaften
würde mich interessieren. Diese belegen immerhin die Verwandtschaft
verschiedener Sprachen miteinander und ihre Herleitung von wieder älteren. Auf
diese Weise lässt sich zum Beispiel für die Familie der indogermanischen
Sprachen ein Ur-Indogermanisch rekonstruieren, das weit vor biblischen Zeiten datiert.”
„Es gibt keine Zeiten vor der
Bibel. Gott schuf den Himmel und die Erde. Davor gab es nichts”, warf Somniak
tonlos dazwischen.
„Die Regelmäßigkeit der
Veränderungen aller Sprachen”, fuhr Holger unbeirrt fort, „und die belegbaren
Einflüsse anderer Sprachen sind eindeutige Beweise für ihre ständige Entwicklung
und gegen ihre plötzliche Aufspaltung.”
„Die Regelmäßigkeit in der
Sprachentwicklung ist lediglich eindeutiger Beweis für die Göttlichkeit ihres
Ursprungs”, erwiderte Somniak.
Holger blickte entnervt zur
Decke. Ein solcher saß ihm also gegenüber, ein Kreationist. Kreationisten
glaubten wörtlich an das erste Buch Moses und leugneten jegliche
wissenschaftlichen Beweise, die dagegen sprachen, wie die Existenz der
Dinosaurier, die Evolution, den Urknall oder eben auch die Sprachentwicklung.
Es würde schwer fallen, einen Kreationisten, der sein Leben lang die Bibel als
heiligen Text wörtlich genommen hatte, von deren kanonischem Charakter zu
überzeugen. Es schien also angeraten, die Argumente in eben jener und nicht in
der Welt der Wissenschaften zu suchen.
„Sie vergessen, Herr Somniak”,
begann Holger neu, „dass der Gott des Neuen Testaments gnädig ist. Er ist nicht
mehr der gerechte, richtende Gott des Alten Testaments. Selbst die
Sprachverwirrung hob er auf.”
„Und wieso gibt es dann nach wie
vor zahllose Sprachen auf Erden?” Die Nuance eines provokativen Untertons
mischte sich in Somniaks Ausdruckslosigkeit.
„Die Aufhebung war, wie Sie
wissen, nicht von Dauer, sondern sollte lediglich die Mission der Christen
symbolisieren, das Wort Gottes an alle Völker und Nationen dieser Erde weiterzutragen.”
„Ich nehme an, Sie spielen auf
das Pfingstwunder an. Sie sagen es ja selbst: Die Aufhebung war nur temporär.
Eine kurze Demonstration seiner Macht”, sagte Somniak mit unverändert monotoner
Prosodie.
„Er goss den Heiligen Geist über
die Jünger Jesu aus, so dass jeder den anderen plötzlich verstehen konnte. Und
das ist für Sie kein Symbol der Aufhebung seiner Strafe?”
„Es ist ein Symbol seiner Macht.”
„Welchen Grund könnte Er gehabt
haben, zu glauben, Seinen ohnehin treuen Gläubigen Seine Macht beweisen zu
müssen?” Holger hoffte, Somniak durch Provokationen aus der Reserve locken und
zu Widersprüchen verleiten zu können.
„Damit sie es nicht vergessen”,
erwiderte Somniak stur.
„Und das Ganze fünfzig Tage nach
dem Tod Jesu, der die Gnade des Herrn gepredigt hatte”, überging Holger
Somniaks Einwand und blickte in die Augen seines Gegenübers, der dieses Mal
offenbar nichts zu
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