Virus (German Edition)
Verdurstenden höflich zu bitten, nicht zu
trinken.
Plötzlich fiel der Vorhang und
gab den Blick auf ein Bild von unbeschreiblicher Schrecklichkeit frei. Ein
kleiner Mann, abgemagert bis auf die Knochen taumelte auf Beinen, die kaum die
Kraft aufbieten konnten, ihn zu tragen, zur Ladekannte. Seine Unterarme waren
skelettiert, als habe er sich selbst das Fleisch von den Knochen genagt. Zudem
war er von oben bis unten verschmiert mit Kot.
Zu dem schrecklichen Bild
gesellte sich ein nahezu betäubender Gestank aus Exkrementen und Verwesung.
Debbie musste einen Würgreiz hinunterschlucken. Sie hörte mehrere dumpfe
Geräusche zu ihrer Linken und sah, dass einige Globalisierungsgegner vor dem
‚Dorfkrug’ bewusstlos zusammengebrochen waren. Andere entleerten ihre Mägen in
sämtliche Richtungen, aufgrund der Enge des Raums hauptsächlich auf ihre
Sinnesgenossen.
Über allem schallte noch immer
der fatale Posaunenton, vermischt mit Würgen und dem Plätschern von Erbrochenem
auf dem Kopfsteinpflaster.
–––––
Das Nirwana, er hatte es
erreicht. Mit letzter Kraft schleppte sich Tran Quoc Tuan dem Licht entgegen,
diesem wundervollen Licht. Es gab Schemen inmitten des Lichts, doch Genaues
erkennen konnte er nicht. Im Prinzip war es einfach nur pures Licht. Er legte
den Kopf in den Nacken und blickte nach oben. Der Himmel des Nirwana.
War das eine kleine Wolke, die
die Sonne verdunkelte? Für einen Moment erfasste Tran Quoc Tuan eine
fürchterliche Angst, dies sei womöglich nicht das Nirwana. Wolken kamen in
seiner Vorstellung der Erleuchtung nicht vor. Doch seine Angst währte nicht
lange. Die Wolke schob sich von der Sonne weg und er blickte direkt in das hell
leuchtende Zentralgestirn. Sein Herz tat seinen letzten Schlag und Tran Quoc
Tuan starb. Er fiel nach vorn über und aus dem Auflieger. Mit einem
schrecklichen Knirschen brachen seine Schädelknochen, bevor er in einer
riesigen Blutlache liegen blieb.
–––––
Tanja Franke konnte einfach nicht
glauben, was soeben passiert war. Sie war Zeugin des spektakulärsten Todesfalls
aller Zeiten geworden und besaß kein Videomaterial davon. Sie würde die Männer,
die ihr die Kamera entrissen hatten, verklagen. Und zwar auf Schadensersatz.
Dieses Video wäre Milliarden wert gewesen. Jeder einzelne Fernsehsender auf der
ganzen Welt hätte es senden wollen.
Doch es half alles nichts. Sie
würde eben Worte finden müssen, um zu beschreiben, was sie bezeugt hatte. Sie
setzte sich auf den Rand des Brunnens, holte ihren Laptop hervor und begann, zu
schreiben, während sie ihren Kameramann aufforderte, sich ein neues Gerät zu
besorgen. Definitiv würde sie die Erste sein, die live vom Tatort berichtete.
Jedes Wort musste sitzen. Für diese Reportage würde man sie mit Preisen und
Auszeichnungen nur so überhäufen.
100.
Zum ersten Mal in den letzten
Tagen befand sich Holger als freier Mann im Gebäude der Polizeidirektion
Rostock. Nachdem er bereits zweimal eine Zelle von innen gesehen hatte, saß er
nun im Verhörzimmer, wobei der lautlich marginale, semantisch aber grundlegende
Unterschied darin bestand, dass er Verhörer und nicht Verhörter war.
Der Raum war der
Aufbewahrungszelle in Größe, Fensterlosigkeit und Tristesse nicht unähnlich –
lediglich ein kleiner quadratischer Holztisch und drei Stühle ersetzten die
stählerne Pritsche –, doch immerhin wusste Holger bereits jetzt, dass er frei
wie ein Vogel hier hinaus spazieren würde.
Er saß neben Herforth auf der
einen Seite des Holztisches, während man Jo Somniak auf den Stuhl ihnen
gegenüber gesetzt hatte. Der Killer war sowohl an den Hand- als auch an den
Fußgelenken gefesselt, und ein bulliger Beamter stand mit Schlagstock in der
Hand neben der Tür. Eine Dienstwaffe trug er nicht, um sicherzugehen, dass der
Gefangene sie nicht erbeuten und nutzen konnte.
Holger hatte nicht den Eindruck,
von Somniak gehe direkte Gefahr aus – wahrscheinlich war er lediglich der Kopf
hinter der ganzen Sache, während sein Komplize sich um die eiskalten
Ausführungen zu kümmern hatte – doch andererseits gab es auch keinerlei Anlass,
leichtsinnig zu sein.
Herforth hatte Holger gebeten,
wegen seiner theologischen Sachkenntnis dem Verhör beizuwohnen, respektive es
sogar zu führen, sobald es um Somniaks Motivation ging.
„Gott wird euch dafür bestrafen”,
eröffnete überraschenderweise Somniak das Verhör und machte durch diese
Themenwahl sogleich Holger zu seinem Dialogpartner.
„Gott ist
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