Virus (German Edition)
Professorin
ins Meer gekommen? Ihm fielen erneut das Bild aus der Zeitung und die
brennende, klar lesbare Schrift ein. Und jetzt war jemand vom Meer angespült
worden, der da überhaupt nie reingegangen zu sein schien. Nichts ergab einen Sinn.
„Aber ein angespülter
Leichnam ist Ihnen nicht aufgefallen?” fragte er weiter.
„Nein”, übernahm
abermals der Rothaarige das Wort. „Der Leichnam muss unmittelbar, bevor Herr Heinze
ihn fand, angespült worden sein. Er hat uns dann darauf aufmerksam gemacht.”
„Okay”, Wegmann
glaubte ihm. „Ist Ihnen sonst irgendetwas Seltsames aufgefallen letzte Nacht?”
stellte er schließlich die finale Frage.
Ihm fiel auf, dass
die Patrouillenführer sofort nervöse Blicke austauschten. Ihnen war etwas
aufgefallen, sie wirkten nur unsicher. Wegmann kannte diese Unsicherheit aus
zahlreichen Zeugenbefragungen. Zeugen hatten häufig Sorge, sich lächerlich zu
machen, sich als übereifrige Hobbykriminalisten zu outen, wenn sie
Beobachtungen mitteilten. Doch hier handelte es sich um Polizisten. Die sollten
doch wissen, dass es stets wichtig war, den ermittelnden Beamten jedes noch so
unwichtig erscheinende Detail zu nennen. Schließlich sollte die Beurteilung, ob
ein Detail wichtig war oder nicht, besser den Profis überlassen werden.
„Ja?” fragte Wegmann
ermutigend.
„Nun ja”, fing erneut
der Rothaarige an und blickte dabei seine Kameraden an. Die Übrigen blickten zu
Boden. „Da war ein Ton, ein seltsamer Ton.”
Wegmann wurde
hellhörig. Schon wieder ein Ton? Nicht möglich. Hatte es womöglich am Vortag
tatsächlich auch einen Ton gegeben? Was hatte der Pfarrer da von einem
psychologischen Massenphänomen erzählt?
„Was für ein Ton?”
fragte er sichtlich gespannt. „Posaunen ähnlich?”
Überrascht blickten
ihn die Patrouillenführer an. Offenbar hatte er ins Schwarze getroffen. Die
Stimme des Rothaarigen hatte viel von ihrer ursprünglichen Sicherheit
zurückgewonnen, als er fortfuhr. „Ja, so ähnlich. Genau das haben wir gedacht.
Aber auch anders. Ein schöner Ton, wenn ich das so sagen darf. Wir haben die
Boote angefunkt, die den Seeraum überwachen, und die haben ihn auch gehört.
Irgendwer auf einer Marinefregatte hat ihn sogar aufgezeichnet. Die da draußen
haben sich wohl irgendwann darauf geeinigt, dass es ein Nebelhorn gewesen sein
muss. Ich habe schon viele Nebelhörner gehört, ich komme aus Bremen. Aber so
eins noch nie. Ich weiß es nicht. Wirklich nicht.” Er zuckte mit den Schultern.
„Ist das alles, was
Ihnen aufgefallen ist?” fragte Wegmann.
Die Patrouillenführer
nickten bestimmt.
„Dann danke ich Ihnen.
Schönen Feierabend.”
Er wandte sich ab und
versank in seinen Gedanken. Dieser Fall wurde immer seltsamer. Hatten die
beiden Todesfälle womöglich etwas miteinander zu tun? In beiden Fällen hatten
Zeugen einen seltsamen Ton beschrieben, einem Posaunenton ähnlich. Wenn sich
die Identität der zweiten Leiche bestätigte, handelte es sich bei beiden Opfern
um Epidemiologen. Aber ebenso war in beiden Fällen Mord so gut wie
auszuschließen. Wie hätte jemand wissen können, dass ein Blitz in das Gebäude
einschlagen würde? Wie hätte jemand die Professorin zwischen den
Polizeipatrouillen und den Seeraum überwachenden Booten ertränken können?
Andererseits stellte
sich im zweiten Fall natürlich auch die Frage, wie die Professorin überhaupt
ins Meer gekommen war. Denn selbst, wenn sie nicht ermordet worden war, hatte
sie irgendwie an den Patrouillen vorbei ins Meer kommen müssen.
Wegmann seufzte. Dies
würde ganz und gar nicht sein Tag werden.
24.
Geschlafen hatte Debbie
kaum und nur sehr unruhig. Schließlich hatte sie weitere Versuche aufgegeben,
eine Dusche genommen und war zum Frühstück gegangen. Sie trug ein enges, kurzes
T-Shirt der University of Minnesota im typischen lila-gelb, eine verwaschene
und verschlissene Jeans und Flip-Flops und merkte, dass sie sich damit in dem
gehobenen Business-Hotel durchaus von den übrigen Gästen abhob. Zwar
residierten zurzeit keine Geschäftsleute hier, sondern lediglich
Gipfelteilnehmer, doch alle schienen ihre Kleidung zumindest in gewissem Maße
der Umgebung angepasst zu haben. Debbie interessierte das nicht.
Sie hatte andere
Sorgen. Wenn sie wollte, dass der Mörder des Professors gefasst wurde, dann
würde sie die Ermittlungen selbst in die Hand nehmen müssen. Doch da gab es das
eine oder andere Problem, das sich ihr in den Weg stellte: Sie verfügte
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