Virus (German Edition)
Auch logisch.
Den Mörder würde sie
nicht finden können, ohne seinen Code korrekt zu entschlüsseln. A87. Was wollte
er damit sagen? Die nächsten Opfer würde sie nur antizipieren können, wenn sie
den Algorithmus fand, nach dem der Mörder sie auswählte. Vorausgesetzt es gab
einen solchen überhaupt. Das allerdings schien Debbie wahrscheinlich, denn
immerhin handelte es sich bei beiden bisherigen Opfern um Epidemiologen und sie
hatten sogar in der gleichen Richtung geforscht, was darauf hindeutete, dass
der Mörder sie nicht willkürlich ausgewählt hatte.
Mitten in all diese
Gedanken hinein klopfte es an ihrer Zimmertür. Wer konnte das sein? Sie
erwartete niemanden.
Sie erhob sich von
ihrem Bett, machte einen kurzen Zwischenstopp vor dem Spiegel am
Kleiderschrank, fuhr sich durchs Haar und ging zur Tür. Sie öffnete, stieß die
Tür jedoch in dem Moment, in dem sie sah, wer draußen stand, mit Wucht wieder
zu. Ein unterdrückter Schmerzensschrei sagte ihr, dass sie seine Nase zumindest
leicht angestoßen haben musste. Gut so.
„Piss off!” rief sie und
merkte, wie die Schlagader in ihrem Hals pulsierte.
„Bitte, wie du willst”,
kam die ruhige, geleierte Antwort von draußen. „Ich konnte mich schon gestern
des Gefühls nicht erwehren, du könntest dir deine Freunde hier in Petersdamm
aussuchen. Vielen Dank für die Verweigerung des Einlasses jedenfalls. Das
erspart mir die Peinlichkeit einer Entschuldigung.”
Debbie konnte es
nicht fassen. Wie konnte er nach allem, was er ihr am letzten Abend angetan
hatte, noch immer diesen leiernden Tonfall aufrecht erhalten? Klang so
vielleicht eine Entschuldigung? Wie gleichgültig war dieser Wichser eigentlich?
„Als ob du dich
entschuldigen würdest, du zynisches Arschloch!” brüllte sie.
„Du wirst es wohl
kaum herausfinden”, hörte sie ihn von draußen sagen. „Zum Glück komme ich
exzellent ohne dich zurecht. Hat in den letzten achtunddreißig Jahren
ausgenommen gut funktioniert. Ich schätze, das beruht dann wahrscheinlich auf
Gegenseitigkeit. Schönes Leben.”
Sie legte ihr Ohr an
die Tür und hörte schlurfende, vom dicken Teppichboden fast komplett
geschluckte Schritte. Er ging also. Endlich. Sie lehnte sich mit dem Rücken an
die Tür und sackte in die Knie zusammen. Noch immer kochte Wut in ihr.
Was war das für ein
Mensch? Was für ein Problem hatte er? Warum konnte er sie nicht einfach in Ruhe
lassen?
Andererseits war er
aus freien Stücken zu ihr gekommen, was er beim besten Willen nicht hätte tun
müssen. War es sein schlechtes Gewissen? Unwahrscheinlich bei einem derartig
gleichgültigen Menschen. Hatte er sich wirklich und ehrlich entschuldigen
wollen? Allzu beharrlich hatte er es nicht versucht. Andererseits war das auch
kaum verwunderlich, wenn man in Betracht zog, wie sie ihn angefahren hatte.
Sie war ganz allein.
Niemand unterstützte sie, niemand glaubte ihr. Die Polizei ermittelte zwar
inzwischen, doch sie würde von Wegmann kein Sterbenswörtchen erfahren. Sie
brauchte einen Verbündeten. Hatte sie nicht erst am Vorabend noch das Gefühl
gehabt, ein guter Mensch verberge sich möglicherweise hinter der Fassade der
Gleichgültigkeit? Hatte sie sich nicht sogar noch gefragt, was ihn so hatte
werden lassen? Konnte er womöglich gar nichts für seinen Zynismus? Handelte es sich
eventuell sogar um einen Schutzmechanismus, einen Schutzwall, weil ihm etwas
Schlimmes widerfahren war? Vielleicht sollte sie ihm eine Chance geben.
Vielleicht aber sollte sie auch sich selbst eine Chance geben, einen Freund zu
finden.
Ohne die Gedanken
wirklich zu Ende gedacht zu haben, ohne wirklich zu einem Ergebnis gekommen zu
sein, dafür aber einfach einem Impuls folgend, sprang sie auf, rannte aus ihrem
Zimmer und Holger hinterher.
30.
Milla Herforth saß in
ihrem neuen Büro in der Polizeidirektion Rostock und starrte fassungslos auf
einen Fernseher in der Ecke des Raums.
Man hatte aus
Praktikabilitätsgründen einen Konferenzraum zu ihrem Büro umfunktioniert. Auf
diese Weise hatte man nicht viel umräumen müssen, denn Tische, Stühle, Fernseher
und sämtliche Anschlüsse waren vorhanden. Zudem hatte Herforth auf diese Weise
genug Raum, um Meetings in ihrem eigenen Büro abzuhalten.
Sie hatte sich am
Kopfende des riesigen rechteckigen Konferenztisches ihren Arbeitsplatz mit
Laptop eingerichtet. Berge von Akten stapelten sich bereits vor ihr. Natürlich
waren die nicht ausschließlich von den beiden aktuellen Todesfällen. Bei zwei
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