Virus (German Edition)
von
diesem selbstherrlichen Lehrbeispiel an Inkompetenz noch irgendetwas erwarten
zu können. Debbie war sich relativ sicher, Wegmann werde lieber den Fall ungelöst
lassen, als ihrer Lösung zu folgen.
Seit einer guten
halben Stunde saßen sie jetzt in diesem Loch fest, ohne Aussicht auf ein Ende.
Seit über zehn Minuten hatte keiner von ihnen ein Wort gesprochen. Debbie hatte
ihren eigenen Gedanken nachgehangen und Holger wahrscheinlich auch. Was mochte
er jetzt denken? Sie blickte zu ihm hinüber, wie er zusammengekauert an der
Wand saß. Wahrscheinlich war ihm die ganze Geschichte völlig egal.
Wahrscheinlich ließ er gar nicht erst zu, dass sie seinen Schutzwall
durchbrach. Was hatte ihn so werden lassen, was hatte ihn so gemacht?
„Was hat dich so
gleichgültig gemacht?” Sie saßen hier sowieso fest. Da konnte sie ihm genauso
gut die Frage stellen, die ihr schon seit dem Vorabend auf der Seele brannte.
Er sah zu ihr rüber
und sie stützte, immer noch auf der Bank liegend, den Kopf auf ihre Hand, um
ihm in die Augen sehen zu können. Lange blickten sie sich an, ohne dass Holger
antwortete.
„Ist das nicht egal?”
fragte er schließlich.
„Nein, ist es nicht.”
Wieder sah er sie
lange an. Doch dann wandte er den Blick von ihr ab und als er antwortete,
starrte er wieder ausdruckslos auf seine Füße.
„Für dich sollte es
egal sein und für mich ist es egal.”
„Weiter hättest du
nicht danebenliegen können”, erwiderte sie. „Mir ist es nicht egal und dir
sollte es nicht egal sein.”
Er blickte sie
überrascht an. Offenbar hatte er nicht mit ihrer Hartnäckigkeit gerechnet.
Wahrscheinlich hatte sich seit langer Zeit überhaupt niemand für seine Probleme
interessiert.
„Wieso das?” fragte
er.
„Mir ist es nicht
egal, weil ich einfach nicht so ein gleichgültiges Arschloch bin wie du. Ich
interessiere mich für meine Mitmenschen.” Sie setzte sich aufrecht auf die
Bank, um Holger besser angucken zu können. „Und dir sollte es nicht egal sein,
weil es dein Leben lähmt. Erinnerst du dich daran, dass du mir gestern erzählt
hast, ich dürfe Meng Hongs Tod nicht verdrängen, sondern müsse ihn verarbeiten?”
Holger nickte.
„Ich glaube, dass du
hier derjenige bist, der etwas zu verarbeiten hat.” Mehr würde sie nicht dazu
sagen. Sie hatte ihre Argumente vorgebracht, hatte ihm ihre Hilfe angeboten. Es
war jetzt an ihm, diese entweder anzunehmen oder abzulehnen. Sie schwieg und er
tat es ihr gleich. Dann eben nicht. Was interessierte es sie überhaupt? Sie
würde ihn nach diesem Gipfel sowieso nie wiedersehen.
„Glaubst du an Gott?”
fragte Holger plötzlich mitten in das Schweigen hinein. War das ein Angebot? Er
würde ihr von seinen Problemen erzählen, wenn sie ihm von ihrem Glauben
erzählte? Warum nicht? Sie war nicht diejenige, die Geheimnisse hatte, und aus
ihrem Glauben hatte sie sowieso noch nie ein solches gemacht.
„Ja”, antwortete sie.
„Wieso?”
„Komische Frage.”
„Du bist
Wissenschaftlerin. Die Wissenschaften und die Kirche sind seit jeher verfeindet”,
sagte Holger.
„Erst mal hast du
mich nicht gefragt, ob ich an die Kirche glaube, sondern ob ich an Gott glaube”,
erwiderte Debbie. „Und zum Glauben der Wissenschaft: Albert Einstein zum
Beispiel hat bewiesen, dass am Anfang eine unbeschreibliche Menge an Energie
vorhanden gewesen sein muss. Energie, aus der dann Materie entstanden ist. Das
ist eine einfache Umformung der Gleichung E=MC². Woher diese Energie stammte,
ist nicht ergründet. Und solange niemand etwas anderes beweist, bin ich der
Überzeugung, dass diese Energie nichts anderes war als Gott selbst.”
„Das ist alles?”
fragte Holger. Sein Leiern klang fast höhnisch. „Und dafür schreibt ihr ein
tausendseitiges Buch, erfindet die Schöpfungsgeschichte, kürt jemanden zum
Messias und verschwendet eure Sonntage in der Kirche? Nur weil sich ein wenig
Energie in Materie verwandelt hat? Viel kann von Gott nicht übrig sein. Der
größte Teil von ihm ist ja jetzt materialisiert.”
„Die Bibel ist kein
heiliger Text wie etwa der Koran”, erwiderte Debbie. „Und du solltest das wohl
eigentlich wissen. Sie ist ein kanonischer Text, ein Leitfaden, der
interpretiert werden will, Sinnfragen stellt, lenkt und führt.”
Debbie sah, dass ihre
Antwort Holger zu denken gab.
„Gut”, sagte er
schließlich. „Damit hast du natürlich Recht. Aber wozu brauchst du dann noch
einen Gott? Bleiben die Sinnfragen, das Lenken und das Führen
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