Virus - Rückkehr der Vogelgrippe (German Edition)
Hand. Es war bereits zehn Uhr. Sie mußte zur Arbeit. Kentler bat sie, ihm sein Telefon und sein Laptop zu bringen. Sie verabschiedeten sich mit einer sanften Umarmung.
6
Schwerfällig und kalt erhob sich die Sonne aus dem Meer. An der Pier in Breege, wo sonst die Passagierdampfer festmachten, standen fünf Männer in weißen Plastikanzügen. Ihr Atem bildete weiße Wolken in der eisigen Luft. Sie gehörten zur Räumeinheit 2 und hatten den Auftrag, die Kadaver verendeter Vögel aus dem Bodden zu fischen. Zwei Meter unter ihnen, neben einer Leiter, lag ein tarngrünes Schlauchboot. Die Wellen plätscherten leise am Rumpf. Draußen auf dem Bodden, neben der kleinen, dem Hafen vorgelagerten Sandbank, erhob sich eine Schar Zugvögel aus dem Wasser. Majestätisch zogen sie eine weite Schleife über das Wasser und verschwanden dann hinter der Landzunge. Einige der Vögel hatten sichtlich Mühe, den anderen zu folgen. Einer der Männer zog ein Fernglas aus der Tasche. Suchend glitt sein Blick übers Wasser. Mit dem rechten Arm deutete er auf die Sandbank. Wenn man genau hinsah, konnte man sechs kleine schwarze Punkte erkennen.
„Da hat’s wohl wieder welche erwischt.“ sagte er.
Die Männer stiegen in das Schlauchboot.
Auf der anderen Seite der Landzunge schlug Marie die Augen auf und blinzelte. Heute war Sonntag und eigentlich konnte sie ausschlafen. Aber sie hatte beschlossen, die Gelegenheit zu nutzen um das Nest fertig zu bauen. Behutsam schlug sie die Decke zurück. Mit einem Maunzen sprang die Katze, die am Fußende gelegen hatte, auf den Boden.
„Tut mir leid, Tiger, aber ich muß kurz weg. Nicht böse sein.“ Schnell zog sie sich an. Auf dem Stuhl stand der Rucksack mit dem Hustensaft, den Heringen und einem Hammer, um die Heringe in den vereisten Boden zu klopfen. Mit behutsamen Bewegungen öffnete sie das Fenster. Kalte Luft floß herein. Sie kletterte auf das Fensterbrett und sprang. Das Gras im Garten dämpfte die Landung. Dann schlich sie über den Rasen, stieg über den kleinen Zaun und verschwand einige Minuten später hinter einer Kurve. Auch die Katze sprang durch das offene Fenster, um auf morgendliche Jagd zu gehen. Im Haus blieb alles ruhig. Niemand hatte etwas bemerkt.
Nebel lag über dem Wasser und kroch Marie durch den Anorak. Sie fröstelte. Sie würde das Zelt aufbauen und nachher zuhause einen heißen Kakao trinken.
Als sie um die Ecke bog, sah sie den Schwan.
Er lag unter dem halb fertigen Zelt in Maries Nest. Der Nebel färbte sein Gefieder zu einem schmutzigen Grau. Den Kopf hatte er unter den linken Flügel gesteckt. Marie spürte eine Welle freudiger Erregung. Sie hatte recht gehabt. Die Zugvögel brauchten ein Nest, wenn das Frühjahr so kalt war. Wie schön sah er aus, ihr Schwan, wie er da lag, ruhig, schlafend.
Sie hatte sich bis auf zwei Meter vorsichtig genähert, als plötzlich ein Zweig mit einem Knacken unter ihren Füßen zerbrach. Erschrocken zog der Schwan den Kopf hervor. Kampfbereit erhob er sich und ließ ein kehliges Krächzen ertönen. Marie wich zurück. Sie konnte sehen, dass der Flügel blutverschmiert war, und auch auf dem langen Hals klebten kleine Blutklümpchen. Irritiert hielten sie beide inne. Einen Moment lang blickte der Schwan sie an, dann glitt er ins Wasser und schwamm zur Mitte des Teichs. Es war ein großer Schwan, mit majestätischem Gefieder und einem kräftigen Schnabel. Mißtrauisch beobachtete er Marie, die aus ihrem Rucksack ein Stück Brot und die Flasche mit dem Hustensaft geholt hatte. Der Schwan war krank, und sie würde ihm helfen. Entschlossen träufelte sie den Hustensaft auf das Brot und hielt es lockend über das Wasser.
Der Schwan drehte sich im Kreis und spreizte das Gefieder. Ein Zittern durchlief seinen Körper. Dann richtete er sich auf und spreizte die Flügel. Der Hals stieß nach oben, ein schmerzverzerrter Schrei ertönte. Im selben Moment riß die Nebeldecke auf. Ein Sonnenstrahl fiel durch die dunklen Wolken und ließ das weiße Gefieder in hellem Glanz erstrahlen. Marie erstarrte überwältigt. Das Bild gefror. Ihr wurde schwindelig.
Als sie die Augen wieder öffnete, trieb der Schwan in sich zusammengesunken auf dem Wasser. Mühsam hielt er den Kopf über der Wasseroberfläche. Unschlüssig drehte er sich zweimal im Kreis. Seine Bewegungen wurden immer langsamer, zusehends schwanden ihm die Kräfte. Marie hatte sich ans Ufer gesetzt, mit den Gummistiefeln schon im Wasser. Noch immer hielt sie das Brot in der Hand. Mit letzter
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