Virus - Rückkehr der Vogelgrippe (German Edition)
ihre erste Aufführung. Deshalb war sie aufgeregt. Seit Wochen übte sie jeden Tag nach der Schule vor dem Spiegel im Flur. Unzählige Male hatte sie ihrem Vater das Versprechen abgenommen, auch ja bei der Premiere zu erscheinen.
„So, Kinder, für euch gibt’s jetzt noch Vitamin C.“ Marianne verschwand in der Küche.
„Seid ihr krank?“ fragte Krentler.
„Nein“, antwortete Gabriel, „aber in der Schule niesen und husten alle, und in vier Tagen haben wir ein Spiel.“
„Und ich hab in zwei Tagen die Aufführung“, pflichtete Sonja ihm bei. „Du hast versprochen, dass du kommst.“
„Ja ja, natürlich komme ich.“ antwortete Krentler. In seinem Kalender hatte er den Termin mit einem roten Ausrufezeichen vorgemerkt.
Als die Kinder ins Bett gebracht waren, öffnete Krentler noch eine Flasche Wein. Verträumt standen sie zu zweit am Fenster und blickten über die Dächer Charlottenburgs. Draußen regnete es. In der Ferne leuchteten die verschwommenen Silhouetten der Hochhäuser am Potsdamer Platz. Knatternd überflog ein Hubschrauber das Haus, folgte der Straße des 17. Juni und verschwand dann in der Dunkelheit. Zurück blieb das gleichmäßige Rauschen des Regens auf den Dächern und auf dem Balkon.
Sie umarmten sich. Dann berührten sich ihre Lippen, gemeinsam ließen sie sich in dieses Wiedersehen ihrer Körper fallen, auf das sie so lange gewartet hatten.
10
Am nächsten Morgen regnete es immer noch. Vorsichtig entzog sich Krentler der nächtlichen Umarmung. Marianne protestierte verschlafen. Leise verließ er das Schlafzimmer. Um neun tagte der Krisenstab.
Die Stadt war grau und verregnet. In der Zeitung las Krentler die neuesten body counts der toten Vögel. Inzwischen hatte das Virus die erste Großstadt erreicht. In Mannheim hatte man einen infizierten Kadaver gefunden. Der lokale Krisenstab hatte die vorgeschriebene Schutzzone eingerichtet und den Ausnahmezustand ausgerufen. Geplänkel, dachte Krentler. Immerhin beließ man dort die Bundeswehr vorerst in den Kasernen.
Der Vorraum im Ministerium war diesmal leer. Krentler ging am Empfang vorbei, wo eine junge Frau in Uniform ihren einsamen Dienst versah. Seine Schritte hallten von der hohen Decke.
Die Tür zum Sitzungssaal stand offen. Auf den Tischen, die zusammen ein Oval bildeten, standen für jeden Platz ein Glas und eine Flasche mit Wasser. Ein Mann in einem dunkelbeigen Anzug saß in der Nähe der Fensterfront, neben der zweiten Tür im hinteren Teil des Raumes stand Schickelbach.
„Guten Morgen Doktor Krentler.“
Krentler nickte ihm zu und setzte sich.
Der beige gekleidete Mann stand auf und trat mit ausgestreckter Hand zu ihm.
„Doktor Krentler“, sagte er, „es ist mir eine Ehre, Sie einmal persönlich kennen zu lernen. Ich habe Ihre Aufsätze über Kontaktflächen und transspeziale Virenentwicklungen gelesen. Großartig. Mein Name ist Rosen. Mathias Rosen. Ich bin Verhaltensbiologe.“
„Sehr erfreut.“ antwortete Krentler. Rosens Händedruck war sanft und etwas feucht, so wie sonst nur bei mittleren Verwaltungsbeamten oder psychisch sehr labilen Menschen. Krentler tippte auf eine Mischung von beidem.
„Schickelbach hat gesagt, dass sie später nach Rügen fahren. Ich möchte mir den Fundort bei der Wittower Fähre auch einmal genauer ansehen. Wir könnten zusammen fahren. Ich habe einige Unterlagen, die ich Ihnen gerne zeigen möchte.“
Krentler blickte verwundert zu Schickelbach, der kurz nickte.
„Ja, sicher“, antwortete er, „worum geht es denn?“
„Das erzähle ich ihnen lieber, wenn wir unterwegs sind.“
Rosen drehte sich um und ging zu seinem Platz. Inzwischen hatten Meyer und Reinhardt auf ihren Stühlen Platz genommen. Neben Meyer saß außerdem noch eine Frau, die Krentler nicht kannte. Die beiden unterhielten sich leise. Schickelbach öffnete die Tür. Der Minister betrat den Raum.
„Guten Morgen, meine Herren, meine Dame“, er nickte der Frau zu. „Fangen wir an?“ Niemand widersprach.
„Ich darf ihnen Frau Lohmann vorstellen, ihres Zeichens Expertin der allgemeinen und speziellen Systemtheorie und Mitarbeiterin im Kanzleramt, Koordinatorin für den Bereich Infrastruktur.“
Sie blickte lächelnd in die Runde.
„Danke, Herr Minister. Derzeit überprüfe ich die Daten des nationalen Pandemieplans und bringe die einzelnen Faktoren auf den neuesten Stand. Seit dem letzten Update haben sich wichtige Veränderungen ergeben. Inzwischen gehen wir für den Pandemiefall von einer höheren Übertragungsrate aus.
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