Virus - Rückkehr der Vogelgrippe (German Edition)
Hilflosigkeit nicht zur Schau stellen.
11
Nach der Sitzung setzte sich Krentler in das schmale Café gegenüber vom Ministerium. Er hatte noch eine halbe Stunde Zeit, bevor er sich mit Schickelbach und Rosen auf den Weg nach Rügen machen würde.
Draußen schien die Sonne. Der Schnee auf den Dächern schmolz so schnell, dass man es mit dem bloßen Auge sehen konnte. Krentler bestellte einen doppelten Espresso. Die Maschine zischte. Außer ihm saßen nur wenige Gäste in dem hohen Raum, der mit den rot gepolsterten Bänken an der Wand und den kleinen Tischen einen französischen Charme hatte.
Krentler nahm sich eine Zeitung. Früher hatte er oft in Cafés gesessen und in der Zeitung geblättert, oft sogar ohne zu lesen. Eines Tages hatte sich eine junge Frau in einem vollbesetzten Café zu ihm an den Tisch gesetzt. Sie hatte ihn gefragt, was in der Zeitung stünde, und er hatte ihr nicht antworten können. Später waren sie zusammen ins Kino gegangen. Der Film war schrecklich gewesen. Geküsst hatten sie sich trotzdem. Am nächsten Morgen hatte er in der Badewanne einen Zettel gefunden, auf dem neben einer Telefonnummer ihr Name stand: Marianne.
Sein Espresso kam. Zerstreut schlug er die Zeitung auf. Selbst in der Frankfurter Rundschau gab es scheinbar nur ein einziges Thema: die Vogelgrippe und die anti-pandemischen Maßnahmen. In Frankreich hatte das Virus bereits eine Geflügelfarm infiziert. Man hatte unverzüglich alle dreißigtausend Tiere getötet. Der französische Innenminister Sarkozy – Sandhofer sprach den Namen immer deutsch aus, mit einem lang gezogenen o, sodass Krentler sich kaum das Lachen verkneifen konnte – hatte alle Franzosen aufgefordert, jetzt erst recht französische Hühnchen zu essen. Sozusagen aus Nationalstolz. Die Preise waren nach dem Vorfall dennoch in den Keller gesackt, weil kein Land mehr französisches Geflügel importierte. Sarkozy hatte erklärt, dass gebratenes Fleisch unproblematisch sei. Wahrscheinlich hatte er einen Koch und deshalb nie Gelegenheit, selbst Fleisch zuzubereiten. Sonst hätte er vielleicht gewusst, dass man vor dem Kochen mit rohem Fleisch hantierte. Und das konnte Teil der Infektionskette sein.
Als kleiner Junge hatte Krentler von seiner Mutter manchmal ein kleines Stückchen rohes Fleisch bekommen, bevor der Rest in den Kochtopf kam. Darauf hatte er dann herumgekaut, bis der Saft herausgesaugt war und das Fleisch nur noch schmeckte wie ein altes Kaugummi. Aber irgendwann hatte ihm der Vater erklärt, der Genuss von rohem Fleisch könne leicht zu einer Veränderung des Aussehens führen, wenn sich die lebendigen Reste des toten Tieres mit seinem eigenen Körper verbänden und ihn dazu brächten, ihre eigene Form anzunehmen. Krentler war daraufhin aufs Klo gerannt und hatte sich die Seele aus dem Leib gekotzt, und mit ihr alle Hühneranteile, die bereits auf ihn übergegangen waren. Jedenfalls hatte er das gehofft. Erst sein Studium der Biologie hatte ihn wirklich davon überzeugen können, dass der Vater unrecht gehabt hatte.
Ein lautes Hupen weckte Krentler aus der Erinnerung. Vor dem Café stand der dunkelblaue Mercedes. Schickelbach saß am Steuer und winkte, Rosen saß im Fond. Krentler trank seinen Café aus, legte einen viel zu großen Schein auf den Tisch und verließ das Café.
Als er im Auto saß, schüttelte Rosen ihm stürmisch die Hand und hörte nicht auf von seinen bahnbrechenden Forschungen zu erzählen, bis sie die Autobahn erreicht hatten. Krentler verstand nur die Hälfte, aber das schien Rosen nicht zu stören. Also ließ er ihn reden, bis der Redefluß von selbst versiegte und Rosen eine Zeitung zur Hand nahm.
Draußen zog die Schneelandschaft vorbei. Inzwischen waren Wolken aufgezogen. Der Schnee erzeugte ein diffuses, unwirkliches Licht. Es war hell, und trotzdem warfen Bäume, Autos und die Fahrbahnbegrenzung keine Schatten.
Eine Weile fuhren sie schweigend.
Kurz hinter der mecklenburgischen Grenze zeigte Rosen mit ausgestrecktem Arm aus dem Fenster.
„Sehen sie den Schwarm dort hinten?“
Krentler sah aus dem Fenster und entdeckte eine Schar Zugvögel, die in V-Formation Richtung Norden zog.
„Was wäre, wenn sie es mit Absicht machten?“ murmelte Rosen.
„Was?“
„Die Verbreitung des Virus.“ Rosen sah Krentler herausfordernd an.
„Wie kommen sie denn auf die Idee?“
„Sie kennen sicher die Karte mit den Flugrouten, von Brenner et al., oder?“
„Ja.“
„Gut. Der Routenverlauf ändert sich von Jahr zu Jahr geringfügig.
Weitere Kostenlose Bücher