Virus - Rückkehr der Vogelgrippe (German Edition)
den Menschen nur möglich, wenn die Viruskonzentration im Infektionsgebiet sehr hoch ist. Für den Fall in Rügen ließe sich das annehmen, nicht aber für den Berliner Toten.“ Krentler schwieg für einen Moment. Meyer erbleichte zusehends. Der Minister blickte starr auf die glänzende Tischplatte. Nur Rosen hatte ein verwirrtes Grinsen aufgesetzt.
„Weiteres kann ich erst sagen, wenn ich die Daten analysiert habe. Aber ich denke, wir sollten mit allem rechnen.“
Als sei das ihr Stichwort gewesen, stand Lohmann auf und ging nach vorne. Sie dimmte das Licht im Raum und schaltete einen Beamer ein. Dann klappte sie den Bildschirm ihres Laptops auf, der bereits vorne auf dem Präsentationstisch gestanden hatte. Als ob die Dramaturgie von Anfang an festgestanden hätte, fuhr es Krentler durch den Kopf.
Auf der Leinwand erschien eine komplizierte Grafik mit mehreren, verschiedenfarbigen Balken, in die Zahlen geschrieben waren. Lohmann wandte sich an ihr Publikum.
„Meine Damen und Herren, guten Morgen.“ Sie räusperte sich. „Was ich ihnen gleich präsentieren werde, sind die vorläufigen Rechenergebnisse der Arbeitsgruppe Epidemische Systeme des Instituts für angewandte Systemtheorie. Ich habe ihnen diese Berechnungen bisher vorenthalten, weil nicht genügend Daten vorhanden waren, um ausreichend sichere Aussagen zu machen. Aber heute nacht hat sich die Situation geändert. Wir alle hoffen, dass der Berliner Fall durch einen Vogel infiziert wurde. Aber wir können uns nicht sicher sein. Drei meiner Mitarbeiter sind derzeit damit beschäftigt, verdächtige statistische Entwicklungen in den Krankendaten der Krankenhäuser innerhalb der letzten 48 Stunden zu untersuchen. Sollte eine verdächtige Häufung von Grippeverdachtsfällen auftauchen, wird es weitergehende medizinische Untersuchungen geben. Mit Ergebnissen ist aber frühestens in zwei Tagen zu rechnen. Dann könnte es bereits zu spät sein.“ Mit einem kühlen Blick fixierte sie Meyer. Meyer hatte die Hände trotzig vor der Brust verschränkt. Lohmann straffte sich und schwieg einen Moment. Aus der Innentasche ihres Jacketts holte sie einen kleinen Laserpointer, mit dem sie auf die Grafik an der Wand zeigte.
„Der untere Balken steht für die Grippepandemie 1918, die sogenannte Spanische Grippe. Ausgelöst wurde sie durch einen mutierten oder rekombinierten Vogelgrippevirus. Weltweit starben etwa fünfzig bis hundert Millionen Menschen. Das entspricht drei bis fünf Prozent der damaligen Weltbevölkerung. Umgerechnet auf heute wären das bis zu dreihundert Millionen Menschen weltweit. Ansteckungs- und Sterberate können wir nur schätzen. Die Umstände waren damals für eine Verbreitung äußerst günstig. Am Ausgang des Krieges gab es nichts zu essen, die Infrastrukturen waren weitgehend zerstört, die Menschen durch die Anstrengungen geschwächt. Die Truppentransporte während der letzten Kriegswirren und danach verteilten das Virus überall. Antivirale Medikamente oder Impfstoffe gab es nicht. Wir haben die Ansteckungs- und Todesfälle im unteren Balken einmal grafisch dargestellt.“
Lohmann zögerte.
„Der obere Balken veranschaulicht die Zahlen, die wir für eine mögliche Pandemie des H5N1-Virus berechnet haben.“
Der obere Balken war bedeutend länger als der untere. Der Minister legte die Stirn in Falten. Lohmann fuhr fort.
„Wir haben es mit einem äußerst aggressiven Virus zu tun. Von den 82 Menschen, die bisher weltweit erkrankt sind, sind 60 gestorben. Die Sterberate beträgt also fast fünfundsiebzig Prozent. Drei Viertel aller Erkrankten. Bei einer Grippewelle, wie wir sie kennen, erkranken in den ersten drei Monaten in der Regel etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung. Drei Monate brauchen wir, um einen Impfstoff zu entwickeln. Das heißt in Deutschland bekommen sechzehn Millionen Menschen einen Schnupfen. Normalerweise führt die Grippe zusammen mit anderen Faktoren wie zum Beispiel Altersschwäche bei ungefähr tausend Menschen zum Tod. Seit letzter Nacht haben sich die Regeln jedoch geändert. Wir haben es mit einem Killer zu tun. Was wir hier zu erwarten haben, sind allein in Deutschland zwölf Millionen Tote.“
Lohmann klappte ihr Laptop zu.
„Welche Folgen eine Pandemie für die gesamte Welt hätte, brauche ich Ihnen nicht zu sagen.“
Mit hängenden Schultern ging sie auf ihren Platz. Krentler konnte die Schweißtropfen sehen, die ihre Schläfen hinunter liefen.
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Pünktlich zu den 12-Uhr-Nachrichten gab der Minister die
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