Visby: Roman (German Edition)
zog.
Maria. Vorgebeugt, Ellbogen auf den Knien, redend. Ihr fast gegenüber, um höchstens fünfzehn Grad seitlich gedreht, der Mann, den sie bei der Ankunft getroffen hatten. Der sie nicht begrüßt hatte. Weil Maria es abgewehrt hatte. Er hörte zu. Den Blick nicht auf Maria gerichtet, sondern an Maria vorbei. Zum See. Zum Steg.
Er hatte sie bemerkt. Er beobachtete sie.
Sie gehörte nicht auf diese Tagung. Die Referate verstand sie nicht, den Menschen hatte sie nichts zu sagen. Maria war keine Hilfe: Bei den Vorträgen saß sie in der vordersten Reihe und stellte in jeder Diskussion Fragen; während der Pausen war sie in Gespräche verwickelt oder unauffindbar.
Timo dagegen kam zu keiner Veranstaltung, sondern hockte mit Steffen aus Köln in der Hotelhalle, jeder mit seinem Notebook, der Deutsche ernst und gepflegt, Timo verschlafen und zerzaust, ein Student neben einem Banker; beide hochkonzentriert. Bis zur Mittagspause. Da standen sie plötzlich vor ihr, als sie den Vortragsraum verließ, wollten gemeinsam mit ihr essen, und kaum saßen sie zu dritt am Tisch, der Kellner hatte noch nicht die Suppe gebracht, fragte Steffen vom Institut für Angewandte Informatik, woran sie eigentlich derzeit säße. Auf Deutsch und damit unhöflich an Timo vorbei.
»Ich entwickle mathematische Modelle, die den Verlauf von Epidemien nachbilden«, antwortete sie auf Englisch.
»Das weiß ich, ich kenne Ihren letzten Artikel, wir arbeiten schließlich am selben Thema.« Er sprach jetzt auch Englisch, flüssig, aber mit hartem Akzent, eine Stimme, die Ärger ausdrückte. »Sie haben doch einen Prototyp für die Simulation entwickelt. Wie steht’s denn damit?«
Also gehörte er zu den Leuten, die laut Maria so neugierig auf ihren Prototyp waren. Denen sie ihre Arbeit in einer Weise erklären sollte, dass man es ohne Mathematikstudium verstand.
Wiebecke. So hieß er mit Nachnamen. Steffen Wiebecke vom IAI .
Der Kellner servierte die Suppe. Timo entfaltete seine Serviette und begann zu essen. Unbeteiligter Zuhörer. Keine Hilfe.
»Ich gehe von einer verallgemeinerten Form von zellulären Automaten aus.« Sie sah Wiebecke an. Er wartete. »Jede Zelle entspricht einer Person. Es gibt fünf verschiedene Zustände: gesund, infiziert, krank, genesen und tot. Welchen Zustand eine Zelle im nächsten Rechenschritt annimmt, hängt von den benachbarten ab – jede Zelle hat vier Nachbarn, oben, unten, rechts und links – und natürlich vom eigenen Zustand.« Wiebecke öffnete den Mund; sie sprach weiter, ohne auf seinen Einwurf zu achten. »Das meiste ist fertig, nur das Interface für die Parameter und Anfangsbedingungen fehlt noch. Und die Subroutinen für die Auswertung sind rudimentär. Daran arbeite ich gerade. – Ja, das war’s so ungefähr.«
Sie griff nach dem Löffel. Wiebecke sah Timo an. Der hob die Schultern.
»Natürlich ist das Ganze noch ein bisschen komplizierter«, fügte sie ungeduldig hinzu. »Es gibt Variablen, die den Zustand der Zellen direkt beeinflussen, unabhängig von dem der Nachbarzellen. Es gibt zeitverzögerte Reaktionen; es soll die Möglichkeit geben, Gradienten oder Felder über das Gitter zu legen … Aber da wird’s schnell kompliziert, das kann ich jetzt nicht in drei Sätzen erklären.«
Sie fing an zu essen. Die Männer schwiegen. Der Kellner räumte die Suppenschalen ab und servierte das Hauptgericht. Wiebecke zersäbelte die Bratenscheibe, als gäbe es für Kerben im Porzellan einen Bonus. Er wurde fertig, während sie am vierten Bissen kaute, stand auf, ohne sich zu entschuldigen, sagte zu Timo »See you at three o’clock« und ging.
Timo sah sie an.
»Was ist?«, fragte sie.
»Du hast ihm Conways Spiel des Lebens erklärt. Für Anfänger.«
»Maria hat gesagt, ich soll mich verständlich ausdrücken.«
»Er ist Informatiker. Ich wäre mir auch verarscht vorgekommen.«
»Dir wäre aber eine bessere Reaktion eingefallen.«
Er fing an zu grinsen, erst widerwillig, dann von Herzen. »Ja, er hat so viel Humor wie eine Strohpuppe. Aber blöd ist er nicht!« Er seufzte. »Nur anstrengend.« Er schob seinen Teller weg. Viel hatte er nicht gegessen: Das vegetarische Hauptgericht bestand aus drei Gemüsebeilagen, mit weißer Soße übergossen.
»Nachher gibt’s Kuchen«, sagte sie.
»Und abends Erdnüsse in der Bar. Gestern Abend habe ich nur Petersilie und Tomatenscheiben gegessen. Die hatten sogar in den Bohnensalat Speck reingemischt. Ich habe die Bedienung gefragt, welche Gerichte
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