Viscount und Verfuehrer
Obwohl sie wusste, dass das Gespräch stattfinden musste, hatte sie trotzdem das Gefühl, dass sie nur das eine fehlende Beweisstück finden müsste, das dieses ganze Durcheinander in Ordnung bringen würde, bis alles wieder wie früher wäre.
Das war es, was sie sich wünschte. Sie dachte daran, wie sie Christian gefragt hatte, was geschehen würde, wenn sein Verdacht sich als begründet herausstellte. In seiner Stimme hatte ein kalter, beinahe hoffnungsloser Ton gelegen. Und was dann aus ihr und Christian wurde ...
Sie schloss die Augen und ließ sich vom Wind gründlich durchpusten.
Was würde Großvater tun, wenn Christian ihn auf die Miniatur ansprach? Würde er gestehen? Hatte er überhaupt etwas zu gestehen? Oder würde er eine Szene ganz anderer Art machen?
Beth rieb sich die Augen. Jedes Mal kam sie zu demselben Schluss: Christian hatte recht, Großvater hatte tatsächlich etwas mit der Verhaftung seiner Mutter zu tun.
Und doch ... sie konnte sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass er dafür tatsächlich verantwortlich sein sollte. Ein dumpfer Schmerz presste gegen ihre Stirn, und ihre Gedanken waren ebenso schwarz wie die Wolken, die sich am Himmel zusammenballten. Dazu kam, dass Beth nicht nur ständig über ihren Großvater nachgrübelte, sie musste auch dauernd an ihre Begegnung mit Christian denken. Etwas war zwischen ihnen - eine Leidenschaft, die alles andere überstieg.
Sie liebte ihn. So sehr. Von Herzen. Komisch, aber sie hatte immer gedacht, dass sie eine solche Leidenschaft als schwindelerregend und erschütternd erleben würde. Stattdessen empfand sie dieses Gefühl als tief und beständig, als etwas Festes, eine Gewissheit, die einen trug. Sie liebte ihn, aber ... liebte er sie auch? Manchmal glaubte sie, in seinem Blick eine Wärme aufblitzen zu sehen, die über eine reine Freundschaft weit hinausging. Nur was hätte es sonst sein sollen?
Es war alles so verwirrend, so nervenaufreibend. Christian mit seiner Mission, ihr Großvater mit seinen Geheimnissen, und ...
„Beth?“
Beth wandte sich um und sah Charlotte auf der Terrasse stehen, die Arme verschränkt, um sich gegen den Wind zu schützen. „Was treibst du bei diesem Wetter hier draußen? Gleich bricht der Sturm los.“
„Ich weiß.“ Beth bückte sich, schnitt eine letzte Rose ab und legte Messer und Blume in ihren Korb. Sie hatte ungefähr zwei Dutzend, genug, um ein schönes Gesteck für den Mahagonitisch im Speisezimmer zu fertigen.
Donner grollte über ihnen, und der Wind zerrte rastlos an den Bäumen. Beth hob die Röcke an und lief zu Charlotte auf die Terrasse. Zusammen gingen sie ins Haus.
Charlotte beugte sich vor und schnupperte an einer Rose. „Die sind herrlich.“
„Ich dachte, wir könnten ein Blumenarrangement für den Tisch stecken.“ Beth stellte den Korb ab und zog die Gartenhandschuhe aus.
Sie legte sie in den Korb über das Messer und trat zum Spiegel über dem Kamin, um sich die Haare zu richten. „Ach herrje! Ich sehe ja aus wie Medusa! “
„Ach, so schlimm ist es gar nicht“, meinte Charlotte, legte den Kopf schief und lächelte nervös. „Hier und da eine Haarnadel, und alles ist wieder so gut wie neu.“
Draußen donnerte es so heftig, dass die Fensterscheiben erzitterten. Charlotte zuckte zusammen und fuhr sich mit der Hand an die Kehle.
„Das kam ein bisschen plötzlich“, erklärte Beth. Ihre Stiefmama schien noch nervöser als sonst. „Du hast Gewitter ja noch nie gemocht. Ich weiß noch, du hattest immer schreckliche Angst.“
Charlotte rieb sich abwesend die Arme und sah hinaus auf den Himmel, der sich rasch verdunkelte. „Ich habe Gewitter schon immer gehasst. Dein Vater wurde deswegen immer sehr ungeduldig mit mir. Er liebte Unwetter.“
„Ja, und manchmal stand er draußen auf der Terrasse und wurde klatschnass. Ich habe mich immer gefragt, warum er eigentlich nie vom Blitz getroffen wurde.“
Charlotte nickte abwesend.
Beth strich sich das Haar glatt, das der Wind so gezaust hatte, und dachte an das Gespräch zurück, das sie mit Christian unter dem Schreibtisch belauscht hatte. Charlotte kannte Großvaters Geheimnis. Aber warum hätte ihr Großvater sich ausgerechnet Charlotte anvertrauen sollen? Er hielt sie doch für einen Dummkopf und noch Schlimmeres.
Charlotte musste zufällig über die Information gestolpert sein. Das war die einzig sinnvolle Möglichkeit. Und das würde auch erklären, warum ihr Großvater sich immer Sorgen machte, ob sie auch ihre
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