Viscount und Verfuehrer
nahm den schwarzen Rock vom Bett. „Ihr Vater hielt große Stücke auf Ihre Mutter. Das habe ich ihn mehr als einmal sagen hören.“
Christian sah den Butler im Spiegel an. „Versuchen Sie nicht, mich dazu zu bringen, öfter an meinen Vater zu denken, als ich es ohnehin schon tue.“
Reeves hielt Christian den Überrock hin. „Das würde ich nicht wagen. Ich kann Ihnen auch nicht verübeln, dass Sie zornig auf ihn sind.“
Christian ließ sich in den Überrock helfen. „Ich bin nicht zornig. Meine Mutter und mein Vater sind beide tot. Zorn wäre da nur verschwendet.“
„Ich wäre trotzdem zornig. Sehr zornig.“
Christian sah in den Spiegel. Mit Ausnahme des schneeweißen Krawattentuchs war er von Kopf bis Fuß in unerbittliches Schwarz gekleidet. Nur der glühende Rubin an seinem Hals und das lebhafte Grün seiner Augen störten das schwarz-weiße Bild.
Er begegnete Reeves’ Blick.
Der Butler hob die Augenbrauen. „Sehr flott, Mylord.“ „Ich hatte noch nie ein so schön gestärktes Krawattentuch. Sagen Sie nicht, dass Walters das gemacht hat.“
„Er wurde schon letzte Nacht krank. Ich habe es dann für ihn übernommen.“ Nüchtern betrachtete Reeves Christians Erscheinungsbild und nickte schließlich. „Gern gebe ich es nicht zu, aber ich muss sagen, Schwarz verleiht Ihnen ein gewisses verwegenes Etwas.“
Christian grinste. „Gut zu wissen, dass all die Jahre auf der Landstraße nicht vergebens waren.“
Reeves verzog das Gesicht. „Bitte, Mylord. Ich habe Sie doch gebeten, dass Sie Ihren früheren Beruf nicht erwähnen sollen, obwohl... Sie wissen noch, was Sie mir über das Morden erzählt haben?“
„Dass ich nie im Leben auch nur einer Seele etwas zuleide getan habe.“
Der Butler atmete erleichtert auf. „Wie schön, dies zu hören, Mylord. “
„Bei mir sind Sie vollkommen sicher, Reeves. Es sei denn, Sie hören nicht auf, meine Kleider zu kritisieren. In dem Fall kann ich für nichts garantieren.“
Reeves nickte schwach. „Wenn Sie so lächeln, sehen Sie dem Porträt Ihrer Mutter erstaunlich ähnlich. “
„Dem ...“ Christian sah den Butler an. „Von meiner Mutter existiert ein Porträt?“
„In Rochester House, dem Hauptwohnsitz Ihres Vaters. Es gehört jetzt Ihrem Bruder, falls Sie es sehen möchten.“ Tristan würde sich nicht davon trennen, was Christian ihm nicht zum Vorwurf machen konnte. „Ich frage mich, warum Vater das Bildnis einer Frau besaß, die er nicht mal anerkennen wollte.“
„Er gab das Gemälde nach ihrem Tod in Auftrag. Der Maler bediente sich einer Miniatur, was man dem Ergebnis aber nicht ansieht.“ Reeves seufzte. „Tut mir leid. Ihr Vater war ein wenig geizig.“
„Geizig?“
„Ja, Mylord. Sowohl mit seinen Mitteln als auch mit seinen Gefühlen, außer wenn es um Mode ging. Ich glaube, später hat er es bedauert.“
„Zu spät und zu wenig.“
„Ja, in vielerlei Hinsicht. Vor seinem Tod sagte er, von allen Frauen, die er kannte, war Ihre Mutter die schönste, sowohl körperlich als auch geistig. “
„Sie war schön“, erwiderte Christian harsch, „bis sie im Gefängnis am Fieber dahinsiechte. “
„Er hatte immer Schuldgefühle, weil er nicht da war, um sie zu beschützen.“
Christian, der sich gerade die Reitstiefel anziehen wollte, hielt inne und drehte sich zum Butler um. „Er hatte Schuldgefühle? Das glauben Sie?“
„Ja. Er weilte außer Landes, in Italien, als sie ins Gefängnis geworfen wurde. Von der Verhaftung Ihrer Mutter erfuhr er erst zwei Monate später. Wegen der Lage auf dem Kontinent brauchte er eine ganze Weile, um nach London zu gelangen. “
„Vater reiste nach London, um sie zu retten?“
„So schnell er konnte, aber er kam zu spät.“ Leise schloss Reeves die Schranktür. „Damals gab er ihr Porträt in Auftrag.“
Christian starrte auf seine Reitstiefel. Ihm brannte eine Frage auf der Zunge, eine Frage, die er sich schon oft ge-stellt, die er indes nie laut auszusprechen gewagt hatte. „Hat er ... hat er versucht, Tristan und mich zu finden?“
„Ihr Vater zahlte ein Vermögen an verschiedene zwielichtige Gestalten, die behaupteten, Sie beide finden zu können. Aber Sie und Ihr Bruder waren spurlos verschwunden.“ Christian versuchte zu schlucken, konnte jedoch nicht. Früher hatte er sich so gewünscht, glauben zu können, dass sein Vater nach ihnen gesucht hatte, dass er versucht hatte, seiner Mutter zu helfen. Er hatte es so sehr glauben wollen ... doch im Lauf der Jahre war ihm
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