Viscount und Verfuehrer
nickte. „Nach Westerville richtet sich offenbar die ganze Gesellschaft.“ Sie blickte über die Schulter und verzog das Gesicht. „O nein, gleich fängt die nächste Vorführung an. Wir können wirklich nicht hier im Gang herumstehen. Ich fürchte, dass wir die paar Minuten bis zur nächsten Pause bleiben müssen.“
Harry fluchte leise in sich hinein, doch selbst er war gezwungen zuzustimmen, denn den Weg zum Ausgang versperrten ihnen nun viel zu viele Menschen. Seufzend wandte er sich zu den Plätzen um, die sie soeben verlassen hatten. Beth setzte sich neben Beatrice, während Harry in Vorbereitung auf das nächste Schläfchen schon wieder die Beine ausstreckte, obwohl seine Frau ihn bestürmte, stattdessen die Musik zu genießen. Harry tätschelte ihr nur die Hand und gähnte ausgiebig. Im nächsten Moment war er bereits eingeschlafen.
Beth zwang sich derweil, nach vorn zu blicken, weg von Christian. Sie konnte seine Anwesenheit fast körperlich spüren, für sie lag sie fast wie ein Gewitter in der Luft. Ihre Haut prickelte, und in ihrem Nacken kribbelte es. Sie musste all ihre Selbstbeherrschung zusammennehmen, um sich nicht umzudrehen und nachzusehen, wo der attraktive Viscount mit seiner Begleiterin Platz genommen hatte. Zum Glück waren die Damen vor ihr nicht so umsichtig. Sie drehten und wanden sich und konzentrierten sich schließlich auf einen Fleck direkt hinter Beth.
Es war schrecklich, so still sitzen zu müssen. Schrecklich und gleichzeitig ziemlich erregend. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund empfand sie nicht nur Ärger, sondern auch Vorfreude. Er würde zu ihr kommen, das wusste sie. Sobald das nächste Musikstück vorüber war und sie sich zum Gehen anschickten, würde er sich ihr in den Weg stellen und ...
Eine warme Hand legte sich auf ihre Schulter, und Hitze zuckte ihr wie ein Blitz den Arm entlang. Eine tiefe, vertrauliche Stimme drang an ihr Ohr. „Ich glaube, Sie haben etwas fallen lassen.“
Beth blickte auf ihren Schoß. Sie hatte die Hände zu Fäusten geballt. Es bedurfte eines Moments der Willensanstrengung, sie zu lösen und sich dann umzudrehen.
Westerville war nur wenige Zoll hinter ihr, seine grünen Augen kamen so nahe, dass sie die winzigen goldenen Flecken darin sehen konnte. Er lächelte sie an und hielt ihr ein gefaltetes Programmheft hin, wobei er ihren bloßen Arm streifte. „Das lag neben Ihrem Stuhl auf dem Boden; es muss von Ihnen sein. “
Beth nahm es, ohne nachzudenken. „Ich ... ich ..." Lieber Himmel, sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
Er lachte leise, und seine weißen Zähne blitzten. „Bei mir brauchen Sie nicht mehr zu stottern. Ich finde Ihren Mund göttlich, egal was Sie damit anstellen.“
Beth versuchte sich an einem wütenden Blick, doch er wollte ihr nicht gelingen. Sie konnte ihn nur anstarren. Seine Augen waren so ausdrucksstark, so faszinierend.
Westervilles Lächeln vertiefte sich, und ihr Blick richtete sich wie von selbst auf seinen schön geschnittenen Mund. In schmerzlich lebhaften Details erinnerte sie sich daran, wie sein Kuss sich angefühlt, wie er geschmeckt hatte. Wie sein Mund sich auf den ihren gelegt hatte, wie er ihre Lippen sanft auseinandergedrängt hatte und sie mit seiner Zunge geneckt hatte.
Bei dem Gedanken stockte ihr der Atem. Sie konnte weder sprechen noch denken, stattdessen stürmten heiß und ungestüm die Erinnerungen auf sie ein.
„Westerville? Was um alles in der Welt machen Sie da mit Lady Elizabeth?“ Die amüsierte, weltgewandte Stimme war wie ein eisiger Guss, der den Zauber brach und Beth erkennen ließ, wie albern sie ausgesehen haben musste. Sie zwang sich, den Blick von Westerville abzuwenden, und schaute zu seiner Begleiterin. „Lady Jersey. Wie nett, Sie zu sehen.“
„Ganz meinerseits, meine Liebe“, erwiderte Sally Jersey.
Von Haus aus eine vermögende Frau, war sie glücklich mit Lord Jersey verheiratet, dessen Mutter die „besondere Freundin“ des Prinzregenten war. Wegen ihrer Verbindung zum Königshaus und auch wegen ihres Reichtums hatte Lady Jersey eine Stellung in der Gesellschaft erlangt, die ihresgleichen suchte. Dies zeigte sich auch, als sie eine der Patronessen von Almack’s wurde, dem berühmtesten aller Heiratsmärkte, wo kein wohlhabender Junggeselle vor den hungrigen Augen geldgieriger Mütter und ihrer verzweifelten Töchter sicher war.
Es verstand sich von selbst, dass Beth von Almack’s herzlich wenig hielt, denn dort wurden Stunden über Stunden nur
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