Vision - das Zeichen der Liebenden
den goldenen Augen. Im Laufe ihres Gesprächs hatte auch die Aggressivität des Ghuls spürbar nachgelassen. Etwas in Garo hatte sich verändert.
»Warte«, sagte Alex hastig. »Vielleicht kann ich dir helfen. Du sagst, du hast vergessen, wo du herkommst. Aber ich glaube, ich kann es in deinen Augen sehen. Es ist da, nur völlig unklar und verschwommen, nicht mehr als ein Schatten eigentlich. Vielleicht, weil ich erst seit Kurzem Visionen habe und sie noch nicht richtig beherrsche, keine Ahnung. Ich weiß nicht, was passieren wird, aber wenn du ein bisschen Geduld hast, schaffen wir es vielleicht.«
Garo runzelte die Stirn. Er knurrte. »Warum sollte ich dir trauen? Du bist doch auch nur einer von ihnen, dir ist egal, was aus mir wird. Du versuchst, Zeit zu gewinnen. Glaub ja nicht, ich würde auf deine billigen Tricks reinfallen.«
Alex hörte ihn nicht. Das Einzige, worauf er sich konzentrieren konnte, war die Vision, die er in sich aufsteigen spürte. Es war das Bild eines Waldes. Ein lauer Wind wiegte die Wipfel der Bäume, untermalt vom harmonischen Summen von Insekten. »Er heißt Safat«, murmelte er selbstvergessen. »Der Ort, wo du geboren wurdest, heißt Safat. Erinnerst du dich? Warte, ich helfe dir.«
Garos Lippen begannen zu zittern, auf seiner Stirn bildeten sich zwei tiefe Furchen. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Alex sprach weiter, den Blick in die Ferne gerichtet. »Es gab einen Bach, der von Norden nach Süden durch Safat fließt. Nachts bist du hinuntergelaufen, um von seinem dunklen Wasser zu trinken. Deine Brüder haben dich begleitet. Das Mondlicht schien durch das zarte Birkenlaub. Beim Einschlafen konntest du die Grillen zirpen hören. Dein Unterschlupf befand sich im Süden, in den Felsen, am Eingang stand ein kleiner Haselnussstrauch.«
Während Alex sprach, nahm die Landschaft, die er beschrieb, um ihn herum Gestalt an. Plötzlich standen sie nicht mehr im Flur eines Wolkenkratzers, sondern in einem dichten Wald auf weichem Moos. Es war Nacht, das silbrige Mondlicht zeichnete ein Gespinst aus feinen Schatten auf den Boden, das sich im Wind leise bewegte. In der Ferne zirpten Grillen und irgendwo plätscherte ein Bach.
Alles war da, zum Greifen nah. Sie konnten die Feuchtigkeit der Erde und den herben Duft der harzigen Baumstämme riechen, spürten, wie ihnen der Wind übers Gesicht strich. Garo sog genüsslich die Luft ein, während ein sehnsüchtiges Lächeln über sein Gesicht huschte. Der Wald hatte ihn verwandelt; er kam Alex viel lebendiger und wachsamer vor als noch vor wenigen Minuten. »Safat«, sagte er träumerisch. »Safat, ja, das hatte ich ganz vergessen.«
»Willst du nicht dorthin zurück?«, fragte Alex sanft. »Du brauchst den Medu nicht weiter zu dienen, das tust du schon viel zu lange.«
»Safat«, wiederholte Garo wie in Trance. »Safat, meine Heimat… Aber heute bin ich ein anderer. Sie haben mich verändert.«
Alex überlegte fieberhaft. Um die Vision aufrechtzuerhalten, brauchte er seine gesamte Konzentration und er merkte schon, dass er müde wurde. Er hatte keine Ahnung, wie lange er diesen Zustand noch aushalten würde, aber er musste es weiter versuchen. Nicht nur um seinetwillen. Auch für dieses seltsame Wesen, dem man sogar die Erinnerungen gestohlen hatte. »Sieh dir die Bäume an«, fuhr er fort, seine letzten Kräfte mobilisierend. Die Worte kamen von allein über seine Lippen, als bringe die Vision sie mit. »Sieh dir die Bäume um dich herum an, sie haben sich nicht verändert. Und du im Grunde auch nicht. Du bist noch derselbe. Der Durst bringt dich dazu, zum Bach zu laufen, der Schlaf treibt dich wieder zu den Felsen. Wenn du Hunger hast, frisst du; wenn du müde bist, legst du dich zum Schlafen auf die Erde. Deine Augen haben die Farbe der Birkenblätter im Winter. So sind sie immer gewesen und so hast du die Dinge immer gesehen. Du kannst nach Safat zurückkehren. Du musst es nur wollen.«
Alex unterbrach sich, weil er das Gefühl hatte, dass sein Kopf gleich explodieren würde. Unerträgliche Schmerzen hämmerten von innen gegen seine Schläfen. Er schloss die Augen, um sich nicht von Garos Gesichtsausdruck ablenken zu lassen. »Der Bach, der durch Safat fließt, heißt Grendel. Sein Wasser schmeckt süß und ist immer kühl, sogar mitten im Sommer. Kein Wasser stillt den Durst so wie das Wasser aus dem Grendel. Du hast Tausende Male gesehen, wie es über die runden dunklen Steine auf dem Grund geplätschert ist.« In seine letzten
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