Vision - das Zeichen der Liebenden
bringen? Wollt ihr mich zwingen?«
»Wir werden dich nie zu irgendetwas zwingen«, erwiderte Corvino erstaunlich gelassen. »Wenn du der Letzte bist, wirst du irgendwann ganz einfach begreifen, was du zu tun hast.«
»Trotz meiner Gefühle?«
»Trotz deiner Gefühle«, bestätigte der Wächter lächelnd. »Gefühle sind nichts als Fesseln für unseren Geist. Ich kann dir beibringen, dich von ihnen zu befreien… Du kannst sehr viel von uns lernen.«
»Ich will überhaupt nicht lernen, mich von meinen Gefühlen zu befreien«, erwiderte Alex halb laut.
Corvino zog die Brauen hoch. »Bist du lieber ein Sklave?«
Alex antwortete nicht. Seine Knie begannen wieder zu zittern und er wusste, dass es nicht mehr lange dauern konnte, bis er erneut zusammenbrechen würde. Als Corvino merkte, was mit ihm los war, bot er ihm wieder seinen Arm an.
»Warum hast du Angst vor dem Wissen?«, fragte er sanft. »Komm zu uns. Gestatte uns, unser Wissen mit dir zu teilen. Was kann dir das schaden? Später kannst du dann immer noch wählen. Wenn du dich dafür entscheidest, dein Schicksal anzunehmen und uns gegen die Medu zu unterstützen – gut. Doch wenn du einen anderen Weg wählst, werden wir dich nicht daran hindern.«
»Und wieso gehst du davon aus, dass ich tun werde, was ihr erwartet?«
»Das Wissen wird dich verändern«, erklärte Corvino gelassen. »Du wirst die Welt danach in einem anderen Licht sehen.«
»Und wenn ich euch enttäusche?«, fragte Alex. »Wenn ich das, was ihr mir beibringt, gegen euch benutze? Ich bin schließlich zur Hälfte Medu, da ist das vielleicht gar nicht so unwahrscheinlich.«
»Das Risiko gehen wir ein«, sagte Corvino. »Wir Wächter waren nie feige.«
Ein paar Sekunden blickten sie einander prüfend in die Augen.
»Woher weiß ich, dass ich dir trauen kann?«, fragte Alex schließlich.
Corvino musste lachen. »Du weißt es einfach.«
In diesem Moment erkannte Alex, dass Corvinos Gesicht zwar jung aussah, dass in seinen Augen jedoch eine Weisheit schimmerte, die unendlich alt sein musste. »Na gut, ich komme mit«, sagte er. »Was soll ich tun?«
Corvino hob eine Hand und legte sie Alex sanft auf die Stirn. »Nichts«, antwortete er und strich ihm übers Haar. »Nur schlafen… Nur schlafen und vertrauen.«
Kapitel 7
Als Alex aufwachte, fiel sein Blick als Erstes auf eine unendlich weite, verschneite Landschaft, von der ihn nur eine durchsichtige Glasfront trennte. Draußen fiel langsam und lautlos der Schnee, wie eine dicke Decke lagen die weißen Flocken über allem. Sie waren von Bergen umgeben, die letzten Bäume, die er sah, wuchsen weit unter ihnen. Er kam sich vor wie in einem Adlerhorst, hoch oben auf einer Bergspitze. Die makellose Helligkeit der Gipfel hob sich scharf vom kühlen Grau des Himmels ab und erst in der Ferne verwischte das Schneegestöber ihre Umrisse.
»Alles in Ordnung?«
Lächelnd stand Corvino an seinem Bett. Alex setzte sich auf. So einen Raum hatte er noch nie gesehen. Alles war voller Farben und Leben: Die vier Wände schienen aus Glas zu bestehen, die, die nicht auf die Berge hinausgingen, waren rosa, grün und blau bemalt, ebenso der Boden. Die Decke hingegen war wunderschön golden getäfelt. »Wo sind wir?«, fragte Alex.
»Bei uns zu Hause«, antwortete Corvino zufrieden. »An einem Ort, der durch jahrhundertelange spirituelle Praktiken geschützt ist. Hier kann niemand eindringen, nicht einmal die Medu. Hier sind wir sicher vor ihnen.«
Alex ließ den Blick über die verschneiten Berge und die farbenfrohen Glaswände schweifen. Er fühlte sich leicht und ausgeruht, als hätte er viele Stunden geschlafen. »Du hast immer ›wir‹ gesagt.« Er sah Corvino an. »Wer sind die anderen?«
»Ich stelle sie dir vor, sobald du aufstehen kannst. Sie erwarten dich schon. Aber bevor du sie triffst, möchte ich dir noch einen Rat geben: Lass dich nicht von deinem ersten Eindruck täuschen. Hinter unserer Fassade steckt weit mehr, als es den Anschein hat. Wenn du irgendeinen Nutzen aus unseren Lehren ziehen willst, musst du Geduld haben.«
Alex schlug die Decke zurück. Er stand auf. Neben dem Bett lagen weiche Hausschuhe aus Fell. Während er hineinschlüpfte, stellte er fest, dass er einen weißen Schlafanzug aus hauchdünner Seide trug, der ihn angenehm wärmte.
Sie gingen einen langen Flur entlang, auch hier waren die Wände aus Glas. Zarte Malereien – rosafarbene, weiße und grüne Blumen – schmückten die rechte Seite, während die linke den
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