Vision - das Zeichen der Liebenden
Natur zu sprechen«, erklärte sie. »Und bilde dir ja nicht ein, das wäre einfach! Aber früher oder später wirst du auch diese Kunst beherrschen.«
»Aber das hat alles noch Zeit. Jetzt sollte er sich erst mal ausruhen.« Corvino stand auf. »Die Reise war anstrengend und wir dürfen nicht vergessen, dass er noch keiner von uns ist. Komm, ich bringe dich wieder in dein Zimmer. Du hast sicher auch Hunger, oder? Wir finden bestimmt etwas für dich.«
Nacheinander verabschiedete sich Alex von den anderen Wächtern. Dabei fiel ihm auf, dass nicht nur Nieves Haut einen farbigen Schimmer aufwies: Argos Haut leuchtete golden, Herus Gesicht wiederum glomm in einem kaum merklichen Grünton.
»Morgen prüfen wir, ob du bereit bist, unsere Lehren aufzunehmen.« Der Bogenschütze umarmte ihn freundschaftlich. »Das hoffe ich, denn die Zeit drängt.«
»Was hat er damit gemeint?«, fragte Alex Corvino auf dem Rückweg, als sie wieder allein waren.
Corvino, der vor ihm durch den Flur ging, drehte sich nicht um. »Du wirst bald siebzehn«, sagte er nachdenklich. »An dem Tag vollzieht sich die Verwandlung. Falls du dich für diesen Weg entscheidest.«
Alex verbrachte den Rest des Tages allein in seinem Zimmer. Er sah den Schneeflocken zu, die unaufhörlich vom Himmel fielen und sich auf den Dachvorsprüngen des Palasts und den Fenstersimsen türmten. Corvino persönlich brachte ihm ein Tablett mit Walnüssen und Käse zusammen mit einem goldgelben Getränk, das angenehm säuerlich schmeckte. Offenbar gab es im Palast keinerlei Bedienstete.
Nachdem Alex mehrere Stunden lang den grauen Himmel und die im Wind tanzenden Schneeflocken beobachtet hatte, spürte er ein Gefühl tiefer Ruhe und Gelöstheit in sich. Dieses körperliche und geistige Wohlbefinden ließ eine eigenartige Euphorie in ihm aufsteigen. Die traurigen Ereignisse vor seiner Ankunft im Palast der Wächter waren zu schwachen Erinnerungen verblasst, er war so zufrieden wie schon seit langer Zeit nicht mehr. Was spielte es für eine Rolle, was gewesen war und was sein würde?
Es war bereits stockdunkel, aber er wollte noch nicht ins Bett gehen. Der Wind hatte die Wolken vom Himmel gefegt und nun funkelten dort oben – ganz anders als über einer hell beleuchteten Stadt – Millionen von Sternen, große und kleine, mal strahlend hell, mal kaum mehr als ein schwaches Glitzern. Alex konnte gar nicht genug von diesem überwältigenden Anblick bekommen. Er versuchte, die bekanntesten Sternbilder zu erkennen.
Da klopfte es plötzlich leise an der Tür.
»Störe ich?« Nieve steckte den Kopf herein. »Ich wusste, dass du nicht schläfst, und würde gerne mit dir reden.«
»Woher wusstest du, dass ich nicht schlafe?«
Nieve kam herein. Sie nahm neben ihm am Fenster Platz. »Unsere Wahrnehmung ist viel feiner als bei anderen Menschen. Gefällt es dir hier?«
»Es ist wunderschön!« Alex nickte. »Ich hätte nie gedacht, dass es so einen Ort wirklich geben könnte. Hier oben könnte man den Rest der Welt vergessen.«
»Genau das ist die Gefahr«, pflichtete Nieve ihm ernst bei. »Das müssen wir uns immer wieder ins Gedächtnis rufen. Alles, was wir tun, tun wir für die anderen, für die, die dort unten leben. Wir Wächter brauchen eigentlich gar nichts… Die Menschen aber brauchen uns umso mehr.«
Alex machte ein überraschtes Gesicht. »Ihr betont immer, ihr wärt auch Menschen, aber merkt ihr eigentlich, wie anders ihr seid? Eure Haut schimmert, ihr habt übersinnliche Kräfte. Ihr seid sogar unsterblich geworden!«
Nieve seufzte. »Ja«, sagte sie. »Genau darüber wollte ich mit dir sprechen. Sieh mal, Alex, ich weiß nicht, ob es den anderen genauso gegangen ist, aber ich habe in dir einen dunklen Schatten wahrgenommen, was uns angeht. Du willst uns gar nicht helfen, oder?«
Alex schoss das Blut ins Gesicht. »Ich habe niemanden angelogen«, verteidigte er sich. »Ich habe Corvino von Anfang an gesagt, dass ich nicht sicher bin, ob ich einer von euch werden will. Ich hasse die Medu nicht und will sie auch nicht vernichten.«
»Es geht nicht nur darum, dass du sie nicht hasst. Du liebst eine von ihnen. Jana.« Nieve sah ihm in die Augen. »Wir beobachten dich schon lange, wenn auch aus der Ferne. Deshalb weiß ich davon. Aber dafür musst du dich nicht schämen.«
Alex lächelte. Kurz färbten sich seine Wangen rot, dann wurde er sehr blass. »Ich schäme mich nicht. Jana bedeutet mir mehr als alles andere. Und es ist mir egal, ob sie eine Medu ist
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