Vision - das Zeichen der Liebenden
einem langen Lernprozess, sondern war Teil ihrer Natur. Arawn war derjenige, der entdeckte, wie man sie besiegen kann: Wir mussten ihnen die Macht der Worte entreißen.«
»Arawn kehrte in die heilige Höhle zurück, aber diesmal stieg er allein hinunter«, fuhr Nieve fort. Sie schien sich wieder gefangen zu haben. »Dort meditierte er sechshundert Tage, bis er alle natürlichen Quellen der Magie in sich hatte versiegen lassen. Wir sahen ihn erst wieder, als er uns zu sich rief, um sich zu verabschieden. Er hatte alle Symbole der Menschen in sich aufgenommen. Sie hatten sich in seine Haut eingebrannt, Tausende übereinander. Er sah schrecklich aus, wie ein Ungeheuer… Kurz darauf hatten sie ihn innerlich zerfressen. Aber vorher konnte er uns noch erklären, was geschehen würde. Sein Opfer hatte die Macht der Medu gebrochen. Aber er hat es vorhergesehen: Die Menschen würden nicht aufhören, die Symbole zu missbrauchen, und irgendwann wären die Medu wieder da. Er riet uns, am Leben zu bleiben und auf der Hut zu sein, unser Wissen bis zu ihrer Rückkehr zu bewahren und zu vermehren.«
»Mit den Medu würde auch er zurückkehren, allerdings in einem anderen Körper«, griff Corvino den Faden auf. »Immer und immer wieder würde sich dieser Kreislauf wiederholen, hat er uns prophezeit, bis zum alles entscheidenden Kampf. Und so war es tatsächlich… Sieben Mal sind sie seitdem zurückgekehrt, jedes Mal stärker und gefährlicher als zuvor. Vor fünfhundert Jahren hat sich Arawn in einem jungen Magier aus Florenz inkarniert, der sich Arion nannte. Seit Arawns Tod hatte der Letzte sich nie wieder auf so mächtige Weise gezeigt. Arion hatte Fähigkeiten, die die unseren weit überragten. Wir übernahmen seine Ausbildung, brachten ihm alles bei, was wir wussten…«
»Trotzdem hat er uns verraten«, unterbrach Heru mit gedämpfter Stimme. »Er wollte sich nicht opfern, er war anders als seine Vorgänger. Er wollte siegen und am Leben bleiben. Er war so mächtig, dass er überzeugt war, er würde es schaffen.«
»Und er hätte es tatsächlich schaffen können, wenn nicht im letzten Moment dieser Medu aufgetaucht wäre, Zephyr«, ergänzte Corvino. »Arion hat seinen Hochmut teuer bezahlen müssen. Und du hast ihn befreit. Schon allein dafür müssen wir dir dankbar sein.«
Ein langes Schweigen trat ein. Alex’ Blick versank in den Flammen des behaglich knisternden, züngelnden Kaminfeuers. »Und woher wisst ihr, dass ich euch nicht auch verraten werde?«, fragte er vorsichtig.
Unwillkürlich sah er zu Argo hinüber. Dieser drehte sich langsam zu ihm um und blickte ihn zum ersten Mal direkt an. »Es ist wirklich eigenartig«, sagte er bedächtig. »Normalerweise kann ich in meinen Meditationen die Vergangenheit und die Zukunft so klar erkennen wie die Gegenwart. Dabei handelt es sich nicht um die Kunst, die deine kurilischen Vorfahren praktizierten, es ist etwas vollkommen anderes. Sie sahen unzählige Varianten und konnten den Lauf der Dinge beeinflussen… Ich verzichte auf die Einflussnahme und sehe dafür, was wirklich geschehen ist und was geschehen wird. Aber bei dir kann ich nichts sehen, Alex. Deine Zukunft liegt hinter einem dunklen Schleier verborgen. Das passiert mir zum ersten Mal und ich gebe zu, es beunruhigt mich. Vielleicht bedeutet meine Blindheit, dass du nicht der bist, für den wir dich halten. Oder vielleicht ist sie ein Zeichen dafür, dass du keine Zukunft hast, weil du bald sterben wirst.«
Alex lief es kalt den Rücken hinunter. Corvino warf Argo einen vorwurfsvollen Blick zu, sagte aber nichts.
Heru machte den Erklärungen ein Ende, indem er vom Tisch sprang und Alex den Bogen hinhielt. »Gefällt er dir?«, fragte er. »Ich habe so viele Jahrhunderte damit trainiert, dass er sozusagen ein Teil von mir ist.«
Unwillkürlich musste Alex an die Feuerpfeile denken, an das schwarze Loch in Eriks Schulter. Nur mit Mühe konnte er die Erinnerung zurückdrängen. »Er ist wunderschön. Bringst du mir bei, ihn zu benutzen?«
»Selbstverständlich. Gleich morgen fangen wir mit dem Üben an. Noch vor Tagesanbruch, damit du dich anschließend erholen kannst, wenn du von Nieve die Geheimnisse der Stimme lernst. Den Nachmittag teilen sich dann Argo und Corvino. Wie du siehst: Langweilen wirst du dich hier bestimmt nicht.«
»Und was genau lerne ich bei dir, Nieve?«, fragte Alex. »Singen?«
Nieves eisblauer Blick durchdrang Alex bis auf die Knochen. »Ich werde dir beibringen, mit der Stimme der
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