Vision - das Zeichen der Liebenden
gerade gezeigt hatte, waren keine harmlosen Abbilder von irgendwelchen Ereignissen gewesen, die ihn nichts angingen, sondern entsetzlich lebendige, verwirrende Einblicke in etwas, das sich nur allzu real angefühlt hatte. Und er hatte sie auch noch dazu aufgefordert. Entschlossen riss er Jana das Blatt aus der Hand. »Wenn du wirklich Drakul-Blut in den Adern hast, solltest du das tatsächlich besser nicht anfassen«, bestimmte er, ehe sie protestieren konnte. »Ich möchte nicht, dass dir was zustößt. Am Ende provozierst du damit noch die Rückkehr des Verbannten und er rächt sich an deinen Drakul-Vorfahren, indem er dich in einen Frosch verwandelt oder so.«
»Darüber solltest du lieber keine Witze machen.« Jana sah aus dem Küchenfenster. »Die Sache ist ernster, als du denkst.«
»Tut mir leid, es sollte eigentlich gar kein Witz sein. Ich wollte damit nur sagen, dass du kein Risiko für mich einzugehen brauchst. Deine Vision hat mich absolut davon überzeugt, dass du magische Fähigkeiten hast. Ich brauche nicht noch mehr Beweise.«
Mit gerunzelter Stirn entzog Jana ihm das Blatt. »Es gibt Risiken, die es wert sind«, sagte sie. Ihre dunklen Augen blickten jetzt ungewohnt sanft. »Alex, was du gesehen hast, war eine einfache Vision, die ich nicht einmal absichtlich hervorgerufen habe. Aber wenn ich will, kann ich dich so reale Dinge erleben lassen, dass du nicht mehr in der Lage sein wirst, sie von der Wirklichkeit zu unterscheiden. Lass es uns noch einmal versuchen. Ich verspreche dir, du wirst es nicht bereuen.«
Alex schloss die Augen und schluckte. Das klang verdammt verlockend. Trotzdem versuchte er, sie zu bremsen. »Einverstanden«, sagte er, »aber nicht mit diesem Zettel. Nimm was, das nicht so gefährlich für dich ist, irgendwas, das nichts mit dem Verbannten zu tun hat.«
Über Janas Gesicht huschte ein Lächeln, das er nicht einordnen konnte. »Hey, jetzt verstehe ich. Es geht also gerade gar nicht um mich, sondern um dich«, sagte sie. »Du hast Angst – vor dem, was du vielleicht herausfinden könntest. Aber denk doch mal nach: Dieser Zettel könnte eine wirklich wichtige Vision auslösen! Er könnte uns etwas über den Tod meiner Eltern oder deines Vaters verraten!«
»Du glaubst, davor hätte ich Angst?« Alex schüttelte finster den Kopf. »Da irrst du dich! Ich würde alles dafür tun herauszufinden, was meinem Vater zugestoßen ist. Was für eine Beziehung er zu den Medu hatte und speziell zu deiner Mutter. Warum steht in seiner Bibliothek auch so ein Buch mit einem Segelschiff auf dem Rücken? Warum hat er diese Skizze reingelegt, falls sie wirklich von ihm stammt? Und wenn nicht – warum hatte er sie dann? Alles Fragen, die ich mir in den letzten paar Tagen tausendmal gestellt habe und auf die ich keine Antwort weiß.«
Jana betrachtete ihn halb nachdenklich, halb abschätzend. »Alex, ich bin keine Kurilen-Magierin. Die Kunst, auf dem Wind zu reiten, ist für immer verloren gegangen, und was wir Agmar machen, ist höchstens eine abgespeckte Variante dieser Kunst: Wir haben Visionen, aber wir können sie nicht beliebig herbeirufen und wir können das, was wir sehen, auch nicht beeinflussen. Mir ist es zum Beispiel noch nie gelungen, meine Mutter zu sehen, obwohl ich es Hunderte Male versucht habe.« Jana unterbrach sich, sie wirkte plötzlich abwesend. Die Schwäche, die sie gerade eingestanden hatte, schien sie sehr zu schmerzen.
»Na ja«, sagte Alex, um sie abzulenken, »wenn du diesen Zettel benutzt, geht es in deiner Vision dann nicht um die Person, die die Skizze angefertigt hat? Das heißt, um meinen Vater?«
»Wahrscheinlich schon, ja, aber es ist nur ein Bild. Du wirst ihn sehen, aber nicht mit ihm sprechen können.«
»Das reicht mir. Vielleicht können wir irgendwas über seinen Mörder in Erfahrung bringen, über diesen Dämon, den ich gesehen habe. Wenn du keine Angst vor dem hast, was passieren kann, dann habe ich auch keine.«
»Diesmal geht es aber nicht nur um die Vision.« Jana stockte. »Wenn ich dich ganz bewusst mitnehme, können wir zusammen sein. Wir sind natürlich dann nicht wir selbst, sondern so was wie mentale Projektionen, also bloß Abbilder unserer Körper. Aber trotzdem: Diese Abbilder können wir sehen, spüren und anfassen, als wären sie echt. Verstehst du, worauf ich hinauswill?«
Und ob Alex das verstand!
Jana schenkte ihm ein verführerisches Lächeln. »Da, wo wir sein werden, verliert das Tattoo seine Wirkung. So was habe ich
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