Visionen Der Nacht: Der Tödliche Bann
bist.«
Kaitlyns Kehle war wie zugeschnürt, und ihre Augen füllten sich mit warmen Tränen. Sie schluckte schwer. »Ich glaube, ich gehe besser.«
Rob kniete sich hin und öffnete die Reisetasche, die er mitgebracht hatte. Er nahm den Kristallsplitter heraus, öffnete Kaitlyns Rucksack und steckte ihn hinein. Kaitlyn spürte, dass es für ihn eine Art symbolischer Akt war. Jede Bewegung fiel ihm schwer, doch er gab ihr damit zu verstehen, dass sie recht hatte.
Er stand auf, sehr blass und ernst, und hielt ihr den Rucksack hin.
»Ruf uns an, wenn es vorbei ist«, sagte er. »Oder wenn du merkst, dass es noch dauert. Und, Kait?«
»Ja?«
»Wenn du dich bis morgen nicht gemeldet hast, komme ich. Das ist nicht verhandelbar, Kaitlyn. Es ist meine Entscheidung. Wenn ich nichts von dir höre, muss ich annehmen, dass etwas schiefgegangen ist. Dann kann alles Mögliche passiert sein.«
Was hätte Kaitlyn dazu noch sagen sollen?
Viel Glück, sagte Lewis im Stillen und umarmte sie. Ich denke an dich.
Pass auf dich auf, beschwor sie Anna. Mach es wie der Rabe, und komm gesund wieder da raus. Sie fügte noch einen Segensspruch in Suquamish hinzu, der für Kaitlyn keiner Übersetzung bedurfte.
Als Letztes umarmte sie Rob, der nach der Lektion, die er soeben hatte lernen müssen, noch gekränkt wirkte. Er umarmte sie fest. Bitte komm zu mir zurück. Ich warte auf dich.
Wie viele Frauen hatten das im Lauf der Geschichte ihren Männern gesagt, wenn sie in den Krieg zogen?
Der Kloß in Kaitlyns Hals wurde mit jeder Sekunde dicker. Ich liebe euch, erklärte sie. Dann drehte sie sich um und verließ die Sporthalle durch die Hintertür. Sie spürte ihre Blicke auf sich und wusste, dass sie schweigend dort stehen blieben, während sie über den Asphalt zum Baseballplatz ging, dass sie ihr nachsahen, bis sie aus ihrem Blickfeld verschwand.
Kaitlyn kehrte auf direktem Weg zurück ins Institut. Es war nicht weit, vielleicht eineinhalb Kilometer. Sie hatte
Rob erklärt, dass sie womöglich tagelang auf eine Gelegenheit warten musste, um an den Kristall zu kommen, doch sie wusste, dass sie die größte Chance hatte, wenn sie es sofort probierte. Bri, Renny, Lydia und wohl auch Gabriel waren in der Schule. Damit blieben nur Frost und Schakal Mac, die gemeinsam mit Joyce im Haus waren.
Ich müsste es eigentlich schaffen, mich unbemerkt ins Haus zu schleichen, dachte sie. Und wenn sie dann ins hintere Labor gehen, komme ich an die Geheimtür heran.
Der Spaziergang tat ihr gut. Kaitlyn blickte in den Himmel, der strahlend blau war und an dem nur wenige flauschig weiße Wölkchen standen. Die Sonne schien ihr warm auf die Schultern, und die Hecken, die den Gehweg säumten, waren mit sternartigen gelben Blüten betupft. Es war Frühling.
Seltsam, dachte sie, man genießt die Welt intensiver, wenn man befürchten muss, dass man sie bald verlässt.
Sogar das Institut wirkte exotisch und wunderschön, wie eine überdimensionale lila Traube.
Doch dann kam der schwierige Teil. Sie musste sich ins Haus schleichen, ohne dass sie jemand erwischte, aber es durfte auch nicht so aussehen, als tue sie etwas Verbotenes. Falls sie doch jemand sah, könnte sie dann sagen, dass sie früher aus der Schule gekommen sei, weil ihr schlecht war.
Nach einigem Überlegen betrat sie das Haus durch
die Hintertür. Vom Labor aus konnte man sie nur sehen, wenn sie die Treppe hinaufging.
Aus dem Labor drang Musik. Gut, so war sie nicht so leicht zu hören. Kaitlyn straffte die Schultern und schlenderte durchs Esszimmer zur Treppe. Sie zwang sich, nicht auf Zehenspitzen zu gehen. Ehe sie den Fuß der Treppe erreicht hatte, warf sie einen beiläufigen Blick durch die offene Labortür.
Sie sah Frost vor einem Tablett sitzen, das voll war mit Uhren und Schlüsseln. Joyce saß ihr gegenüber, Notizbuch und Stift in der Hand. Frost wandte Kait den Rücken zu, und Joyce saß zwar mit Blick auf die Tür da, konzentrierte sich aber auf ihre Notizen. Das waren gute Voraussetzungen.
Schakal Mac war nicht zu sehen. Kaitlyn betete, dass er im hinteren Labor im Tank war.
Kaitlyn blieb an der Treppe stehen und sah nach rechts. Sie zwang sich noch immer, leger zu wirken. Wie sollte sie weiter vorgehen, ohne aufzufallen? Ich muss hier warten, dachte sie. Am besten binde ich mir erst mal den Schnürsenkel.
Ohne den Blick von der Labortür abzuwenden, kniete sie sich hin und öffnete den Schuh, den Blick immer auf Joyce gerichtet.
Ich kann erst in die Diele, wenn sie
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