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Visionen Der Nacht: Die Dunkle Gabe

Visionen Der Nacht: Die Dunkle Gabe

Titel: Visionen Der Nacht: Die Dunkle Gabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa J. Smith
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jetzt gleich die Kopfhörer aufsetzen und die Augenbinde hier umlegen.« Die Augenbinde sah merkwürdig aus, wie eine Brille, die aus zwei Tennisballhälften besteht.
    »Was ist das denn?«
    »Das ist eine Billigversion des Ganzfeld-Kokons. Ich versuche noch, das Geld für einen richtigen Ganzfeld-Raum
zusammenzubekommen, mit Rotlicht und Stereoklang und allem …«
    »Rotlicht?«
    »Das hilft bei der Entspannung, aber egal. Beim Ganzfeld-Experiment geht es darum, die gewöhnlichen Sinne auszuschalten, damit man sich auf seine übersinnlichen Kräfte konzentrieren kann. Mit der Augenbinde kannst du nichts sehen. Und du kannst auch nichts hören, weil die Kopfhörer dich mit weißem Rauschen beschallen. Das soll dazu beitragen, dass du empfänglicher bist für die Bilder, die dir in den Kopf kommen.«
    »Aber mir kommen doch gar keine Bilder in den Kopf«, sagte Kait. »Sie kommen mir in die Hand.«
    »Das geht schon in Ordnung«, sagte Joyce und lächelte. »Lass sie einfach kommen. Hier hast du einen Bleistift und ein Klemmbrett mit Papier. Du musst nicht sehen, um zu zeichnen. Lass den Bleistift einfach laufen, wie deine Hand es will.«
    Das klang in Kaitlyns Ohren verrückt, aber Joyce war die Expertin. Sie setzte sich und legte sich die Augenbinde um. Alles wurde schwarz.
    »Wir versuchen es mit nur einem Zielbild«, sagte Joyce. »Fawn wird sich auf das Foto eines bestimmten Objekts konzentrieren. Du versuchst, ihre Gedanken zu empfangen.«
    »Na klar«, murmelte Kaitlyn und setzte die Kopfhörer
auf. Ein wasserfallähnliches Geräusch erfüllte ihre Ohren. Das muss das weiße Rauschen sein, dachte sie und lehnte sich im Sessel zurück.
    Joyce drückte ihr den Bleistift in die Hand und legte ihr das Klemmbrett auf den Schoß.
    Okay, entspann dich.
    Es war sogar recht einfach. Sie sah zwar bestimmt ziemlich albern aus, aber sie wusste ja, dass niemand sie hinter dem Wandschirm sehen konnte. Also konnte sie es sich bequem machen und ihre Gedanken schweifen lassen. Die Dunkelheit und das Geräusch des Wasserfalls wirkten wie eine Rutschbahn. Sie konnte sich nirgends festhalten und spürte, wie sie hinabglitt.
    Da bekam sie es mit der Angst zu tun. Die Furcht kroch in ihr hoch und hatte sie völlig im Griff, ehe sie auch nur wusste, wie ihr geschah. Ihre Finger umklammerten den Bleistift.
    Ruhig, ganz ruhig. Es gab nichts, vor dem sie sich hätte fürchten müssen …
    Aber sie kam nicht dagegen an. Ihr war flau im Magen. Ihr blieb die Luft weg.
    Lass die Bilder einfach kommen … Aber was ist, wenn es etwas Schreckliches ist? Etwas Bösartiges, das im Verborgenen lauert und nur darauf wartet, in meinen Geist einzudringen?
    Kaits Hand verkrampfte sich und begann zu jucken.
Joyce hatte gesagt, sie solle den Bleistift einfach laufen lassen. Doch Kaitlyn wusste nicht, ob sie das wirklich wollte.
    Egal. Sie musste zeichnen. Der Bleistift kam in Bewegung.
    Oh Gott, und ich habe keine Ahnung, was dabei herauskommt!
    Sie wurde die Angst nicht los. Eine gestaltlose Dunkelheit erfüllte Kaitlyn, als sie versuchte, sich vorzustellen, was ihre Hand zeichnete.
    Ich muss es sehen.
    Die Anspannung war unerträglich geworden. Mit der linken Hand riss sich Kaitlyn Augenbinde und Kopfhörer herunter. Ihre Hand zeichnete noch immer wie ein körperloses Gliedmaß aus einem Science-Fiction-Film. Kaitlyn hatte keinerlei Vorstellung, wo der Bleistift als Nächstes hingehen würde. Es war, als gehöre die Hand gar nicht zu ihr. Es war grauenhaft.
    Und die Zeichnung – die Zeichnung war noch schrecklicher, nein, sie war … grotesk.
    Die Linien waren verwackelt, das Bild jedoch durchaus zu erkennen. Es war ihr eigenes Gesicht. Ihr Gesicht … mit einem zusätzlichen Auge auf der Stirn.
    Das Auge war von dunklen Wimpern umrahmt, sodass es fast aussah wie ein Insekt. Weit aufgerissen glotzte es sie an, grauenhaft und abstoßend. Kaitlyn fasste sich mit der linken Hand unwillkürlich an die
Stirn, als wolle sie sichergehen, dass dort nichts war. Bis auf sorgenvolle Runzeln war nichts zu spüren. Sie rubbelte kräftig über die Haut.
    So viel zur Fernwahrnehmung, dachte Kait. Sie war sich todsicher, dass sich Fawn nicht auf dieses Bild konzentriert hatte.
    Kaitlyn wollte gerade aufstehen und Joyce beichten, dass sie das Experiment verpatzt hatte, als das Schreien einsetzte.

KAPITEL SECHS
    Es war sehr laut, obwohl es von weit weg zu kommen schien. Vom Rhythmus her klang es fast wie Babygeschrei, das hektische, verzweifelte Heulen eines

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