Visionen Der Nacht: Die Dunkle Gabe
ich mich, ob es wirklich so eine gute Idee ist, unsere Kräfte weiterzuentwickeln. Ich meine, sieh dir Gabriel an.«
Sie sagte es in der vagen Hoffnung, einen gemeinsamen Ausgangspunkt für ein Gespräch zu finden. Rob beendete auch prompt seine Grübelei, schüttelte aber vehement den Kopf.
»Natürlich ist es eine gute Idee, es ist wichtig für die Welt. Gabriel muss nur lernen, seine Kräfte zu
kontrollieren. Das kann er überhaupt noch nicht. Vielleicht will er sich auch nicht beherrschen.« Rob schüttelte den Kopf und klatschte eine Scheibe Vollkornbrot aufs Schneidebrett. »Aber jeder sollte seine Gabe weiterentwickeln, meine ich. Wusstest du, dass so gut wie jeder Mensch außersinnliche Wahrnehmungen hat?« Er sah Kait ernst an.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich dachte, wir wären etwas Besonderes.«
»Unsere Kräfte sind nur stärker. Aber so ziemlich jeder hat übersinnliche Fähigkeiten. Ist doch klar: Wenn jeder daran arbeiten würde, dann würde alles besser werden. Im Moment sieht es ja wirklich ziemlich düster aus.«
»Du meinst … für die Welt?«
Er nickte.
»Die Menschen kümmern sich nicht umeinander. Aber weißt du, wenn ich Energie kanalisiere, spüre ich den Schmerz der Menschen. Wenn jeder das spüren könnte, wäre alles anders. Es würde keinen Mord geben oder Folter oder so etwas, weil niemand jemand anderem Schmerz zufügen wollte.«
Kaitlyns Herz hüpfte. Er hatte für sie »Energie kanalisiert« – bedeutete das, dass er sich ihr nahe fühlte?
Doch sie sagte nur sehr sanft: »Nicht jeder kann ein Heiler sein.«
»Jeder hat eine Gabe. Jeder sollte irgendwie helfen.
Wenn ich mit dem College fertig bin, möchte ich so etwas Ähnliches machen wie Joyce – nur, dass ich versuchen würde, alle Menschen mit einzubeziehen. Alle und überall.«
Kaitlyn machte große Augen angesichts dieser Vision. »Du willst die Welt retten?«
»Natürlich. Ich würde jedenfalls meinen Teil beitragen«, antwortete er mit einer Selbstverständlichkeit, als gehe es darum, seinen Teil zum Umweltschutz beizutragen .
Guter Gott, dachte Kait. Ich glaube ihm.
Die Zielstrebigkeit des Jungen mit den goldenen Träumeraugen forderte ihr Respekt ab. So einen Menschen, dachte Kait, trifft man nur selten. So ein Mensch kann tatsächlich alles verändern.
Das waren ihre Gedanken. Doch ihre Gefühle waren … tja.
Gegen ihre Gefühle war sie völlig wehrlos, dachte sie, als sie die belegten Brote nach oben brachten.
Den ganzen Nachmittag rückten sie Möbel, diskutierten, stellten um. Kaitlyn genoss ihre neue Gefühlswelt, in der Freude und Schmerz gleichermaßen zu Hause waren. Es war wohltuend, aber auch qualvoll, mit Rob zusammen zu sein.
Nie hätte sie gedacht, dass sie sich innerhalb eines Tages in jemand verlieben könnte.
Doch nun war es geschehen. Jede Minute, in der
Rob in ihrer Nähe war, spürte sie, wie es stärker wurde. Sie konnte sich kaum auf etwas anderes konzentrieren, wenn Rob mit im Zimmer war. Ihr Herz raste, wenn er sie ansah, seine Stimme ließ sie schaudern, und wenn er ihren Namen aussprach …
Bis zum Abend war sie hoffnungslos verloren.
Das Merkwürdige war, dass sie nun, da sie es vor sich selber zugab, auch gern darüber sprechen wollte. Jemand anders ihre Gefühle mitteilen wollte.
Anna, dachte sie.
Als Anna in ihr Zimmer ging, um sich vor dem Abendessen noch frisch zu machen, folgte ihr Kait. Sie schloss die Tür, ging ins Badezimmer und öffnete den Wasserhahn.
Anna saß auf dem Bett und bürstete sich das lange schwarze Haar. »Wofür soll das gut sein?«, fragte sie belustigt.
»Privatsphäre«, erklärte Kait grimmig. Sie ließ sich auf ihr Bett nieder, konnte aber kaum stillsitzen. »Anna – kann ich mit dir reden?«
»Natürlich.«
Natürlich.
»Es ist so merkwürdig. Zu Hause hatte ich nie eine Freundin, der ich mich anvertrauen konnte. Aber mit dir kann ich reden, das weiß ich. Ich weiß nur nicht, wie ich anfangen soll«, fügte sie, plötzlich verzweifelt, hinzu.
Anna lächelte, und Kaitlyn entspannte sich. »Es hat wohl nicht zufällig etwas mit Rob zu tun?«
Kaitlyn erstarrte. »Oh Gott«, sagte sie. »Ist es so offensichtlich? Glaubst du, er weiß es auch?«
»Nein. Aber vergiss nicht, ich bin ein Mädchen. Mir fallen Sachen auf, die Jungs nie bemerken würden. «
»Ja, und das ist das Problem, nicht wahr?«, murmelte Kaitlyn. Sie war plötzlich am Boden zerstört »Ich habe das deutliche Gefühl, dass er es wohl nie merken wird.«
»Ich habe
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