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Visionen Der Nacht: Die Dunkle Gabe

Visionen Der Nacht: Die Dunkle Gabe

Titel: Visionen Der Nacht: Die Dunkle Gabe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa J. Smith
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gehört, was Joyce über ihn gesagt hat.«
    Kaitlyn war sehr froh, dass sie die Geschichte nicht wiederholen musste. Es wäre ihr vorgekommen wie Tratsch. »Dann weißt du ja, dass es praktisch aussichtslos ist«, sagte sie.
    »Aussichtslos ist es nicht. Du musst ihn nur dazu bringen, dass er dich bemerkt, das ist alles. Er mag dich. Ihm ist nur nicht klar, dass du ein Mädchen bist.«
    »Du glaubst, er mag mich?«
    »Natürlich. Du bist wunderschön. Kein normaler Junge hätte Schwierigkeiten zu erkennen, welchen Geschlechts du bist. Aber bei Rob wirst du nicht darum herumkommen, ein bisschen nachzuhelfen.«
    »Muss ich etwa das Hemd ausziehen?«
    »Ich habe eigentlich an etwas weniger Drastisches gedacht.«

    »Ich habe auch nachgedacht«, sagte Kaitlyn. »Den ganzen Nachmittag habe ich darüber nachgedacht … na ja, wie ich ihn in eine Situation bringe, in der es funken könnte. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das richtig wäre. Würde ich ihn damit nicht austricksen? «
    Anna lächelte. Es war ein sehr breites Lächeln. »Siehst du die Maske da?«, sagte sie und deutete mit dem Finger auf die Rabenmaske, die an der Wand hing. »Das ist Skauk, der Rabe. Er war der Schutzgeist meines Großvaters, und als die Missionare kamen und meiner Familie den Namen ›White‹ gaben, hängte er ›Raven‹ an, damit wir immer wissen, wer wir sind: Freunde des Tricksers, des schlauen Rabengeistes. «
    Fasziniert starrte Kaitlyn die Maske mit dem langen stumpfen Schnabel an.
    »Rabe hat immer alles aus Eigennutz gemacht, aber hinterher hat sich jedes Mal herausgestellt, dass er dem Wohle aller gedient hat. Zum Beispiel damals, als er die Sonne gestohlen hat.«
    Kaitlyn grinste und freute sich auf eine Geschichte. »Als er was?«
    »Er hat die Sonne gestohlen«, sagte Anna ernsthaft. Nur ihre Augen lächelten. »Grauer Adler hasste die Menschen sosehr, dass er die Sonne in seinem Haus versteckte, und alle anderen mussten im Dunkeln
leben. Rabe wollte die Sonne ebenfalls für sich haben, wusste aber, dass Grauer Adler ihn nicht ins Haus lassen würde. Deshalb verwandelte er sich in eine schneeweiße Taube und brachte die Tochter von Grauer Adler dazu, ihn einzulassen.«
    »Ts, ts, ts«, machte Kaitlyn. Anna lächelte sie verschmitzt an.
    »Sobald er im Haus war, schnappte sich Rabe die Sonne und flog damit davon. Aber Grauer Adler verfolgte ihn. Rabe bekam es mit der Angst zu tun und ließ die Sonne fallen – und sie landete am Himmel, wo sie die ganze Welt erleuchtete.«
    »Das ist schön«, sagte Kaitlyn zufrieden.
    »Es gibt viele Geschichten über den Raben. Aber worum es mir geht: Manchmal ist ein bisschen Trickserei ganz in Ordnung.« Anna zwinkerte Kait aufmunternd zu. »Vor allem, wenn es um Jungs geht.«
    Kaitlyn stand auf. Plötzlich wurde sie ganz unruhig. »Dann mache ich es! Wenn mir etwas Gutes einfällt.«
    »Du könntest mit einer Katzenwäsche anfangen«, sagte Anna lachend. »Das Wasser läuft ja schon. Im Moment würde ihm an dir vor allem der Fleck auf deiner Nase auffallen.«
    Kaitlyn wusch sich nicht nur, sondern zog sich auch um und steckte die roten Locken mit einer goldenen Haarspange zurück. Allerdings beeinflussten diese Maßnahmen Robs Haltung beim Abendessen leider
kein Stück. Neu war nur, dass Gabriel am Essen teilnahm.
    »Er isst«, flüsterte Kaitlyn Anna zu, als sie ihr den Naturreis reichte. »Ich habe mich schon gefragt …«
    Nach dem Abendessen verschwand Gabriel wieder in seinem Zimmer. Lewis, Rob und Anna gingen zusammen in den Gemeinschaftsraum, den sie jetzt als Arbeitszimmer bezeichneten. Allerdings war es für Kaitlyn kaum vorstellbar, dass man dort viel zum Arbeiten kommen konnte. Nicht, wenn über den CD-Spieler U2 lief und im Fernsehen ein Horrorfilm lärmte. Anna schien das nichts auszumachen. Sie zog sich mit einem Buch in den Erker zurück. Kaitlyn jedoch hielt es in dem Lärm nicht aus.
    Sie wollte ein wenig allein sein, wegen Rob und auch wegen der Schule, die am nächsten Tag begann, ihrer neuen Schule, ihrer neuen Chance. Ihre Gefühle fuhren Achterbahn, rasten wirr hin und her, schlugen Purzelbäume und Salti.
    Was aber das Wichtigste war: Sie wollte malen.
    Nicht die übersinnliche Kritzelei. Zeichnen und Malen trugen immer dazu bei, ihre Gedanken in ruhigere Bahnen zu lenken. Sie hatte schon zwei Tage nicht mehr richtig gezeichnet. Bei dem Gedanken fiel ihr das Bild ein, das sie im Labor angefertigt hatte. Sie hatte es einfach dort liegen lassen, hinter dem Wandschirm.

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