Visionen Der Nacht: Die Dunkle Gabe
nach ihrem Arm, und Kaitlyn zog ihn weg.
Jetzt, dachte sie, und schlug mit dem Skizzenbuch zu. Es funktionierte – der Draht traf ihn an der Wange und riss einen langen, blutigen Kratzer in die Haut.
Triumph wellte in Kaitlyn auf. Doch im nächsten
Moment hatte sie der Fremde schon am Handgelenk gepackt und drehte es, bis sie das Skizzenbuch fallen ließ. Sein Griff stach wie tausend Nadeln. Der Schmerz befreite ihre Stimme.
»Lassen Sie mich los«, keuchte sie. »Lassen Sie los!«
Er drückte noch stärker. Über seine Wange lief Blut, das im Mondlicht schwarz aussah. Kaitlyn versuchte, ihn zu treten, doch er drehte sich weg, und ihre Tritte gingen ins Leere. Er hatte sie jetzt an beiden Armen gepackt und stieß sie rückwärts den Abhang hinauf, bis sie stürzte.
Schrei, sagte sie sich.
Kaitlyn holte tief Luft und schrie. Doch sofort hielt ihr der Fremde die Hand vor den Mund.
»Still!«, sagte er in wütendem Flüsterton.
Kaitlyn starrte ihn über seine Hand hinweg an, die Augen vor Angst geweitet. Er war stärker und viel schwerer als sie – sie konnte sich nicht rühren.
»Du bist zu leichtsinnig, du denkst nicht nach«, zischte der Fremde. Der Mond stand hinter ihm, sodass sein Gesicht im Schatten lag, doch sie spürte seinen Zorn.
Er wird mich umbringen, und ich werde nie erfahren, warum, sagte ein kleiner, klar denkender Teil ihres Gehirns. Der Rest war umspült von schierer Angst, denn seine Hand blieb auf ihrem Mund liegen. Das Atmen fiel ihr zunehmend schwerer …
Da tauchte hinter dem Fremden etwas auf.
Benommen, wie sie bereits war, erkannte Kaitlyn erst nicht, was es war. Sie sah nicht mehr als eine dunkle Silhouette vor dem mondhellen Himmel. Dann sah sie, dass es eine menschliche Gestalt war. Sie hatte etwas in der Hand, das metallisch schimmerte.
Es folgte eine Bewegung, die so schnell war, dass Kaits Augen ihr nicht folgen konnten. Sie spürte, dass der Fremde leicht nach hinten weggezogen wurde. Im Mondlicht konnte sie ein Messer erkennen.
»Lass sie los«, sagte eine abgehackte, raue Stimme, »oder ich schneide dir die Kehle durch.«
Gabriel?, dachte Kaitlyn ungläubig. Nun erst erkannten ihre von Panik gelähmten Sinne, was sich vor ihr abspielte.
Der Fremde nahm die Hand von Kaitlyns Mund. Keuchend sog sie die Luft ein.
»Und jetzt aufstehen«, sagte Gabriel. »Keine Mätzchen. Ich habe heute Abend schlechte Laune.«
Der Fremde stand langsam und kontrolliert auf wie ein Tänzer. Das Messer blieb die ganze Zeit an seiner Kehle.
Sobald das Gewicht völlig von ihr genommen war, rappelte sich Kaitlyn auf und floh zwei Schritt den Abhang hinauf. Noch immer schwappte das Adrenalin in schmerzhaften und nutzlosen Wellen durch ihren Körper. Ihre Hände zitterten.
Ich muss Gabriel helfen, dachte sie. Er mag noch so hart sein, aber er ist ein Teenager, und der Fremde da ist ein Mann, ein starker Mann.
»Soll ich zurück ins Haus laufen und Bescheid sagen? «, keuchte sie und versuchte, gefasst und sachlich zu klingen.
»Wozu denn?«, erwiderte Gabriel kurz. Er machte eine schnelle Bewegung, und der Fremde wurde auf den Rücken geschleudert.
»Und jetzt, hau ab«, fauchte er die liegende Gestalt an. »Und komm nur zurück, wenn du lebensmüde bist. Wenn ich dich hier noch einmal erwische, vergesse ich, dass ich gerade zwei Jahre für Mord aufgebrummt bekommen habe.«
Entsetzen erfüllte Kait.
»Ich habe gesagt, hau ab. Renn, so schnell du kannst. Zeig mir deinen schnellsten Sprint.«
Der Fremde stand auf, nicht annähernd so geschmeidig und elegant wie noch wenige Augenblicke zuvor. Soweit Kait seinem Gesichtsausdruck entnehmen konnte, mischte sich in seine unverkennbare Wut eine gehörige Portion Angst.
»Ihr seid beide so dumm …«, begann er.
»Hau ab«, sagte Gabriel und zog den Arm mit dem Messer nach hinten, als wolle er es gleich werfen.
Der Fremde drehte sich um und lief fort – halb rannte er, halb stapfte er zornig davon.
Als seine Schritte verklungen waren, klappte Gabriel das Messer mit einem geübten Handgriff ein und steckte es in die hintere Hosentasche.
Mord, dachte sie. Er war wegen Mordes im Gefängnis gewesen.
Laut stieß sie zittrig ein »Danke« aus.
Er sah sie kurz an, und sie hätte schwören können, dass seine Mundwinkel belustigt zuckten, gerade so, als wisse er um die Diskrepanz zwischen ihren Gedanken und ihren Worten. »Wer war das? Ein Ex?«, fragte er.
»Mach dich nicht lächerlich«, fauchte Kait und hätte sich am liebsten gleich auf
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