Visionen Der Nacht: Die Dunkle Gabe
gibt, das du nicht sehen sollst, dann wirst du es auch nicht zu sehen bekommen. Könntest du sie wohl ablenken, wenn ich dich darum bitte? Es reicht, wenn sie eine Minute weg ist.
Ja, sagte Rob schlicht.
Da Marisol nicht da war, um zu assistieren, hatte Joyce die Tests mit Gabriel völlig eingestellt. Sie schickte Rob und Fawn, das MS-kranke Mädchen, ins hintere Labor, während die drei anderen ihre Versuche im vorderen Labor durchführten. Kaitlyn wusste, dass Rob wartete, konzentriert und wachsam.
»Gut, du weißt ja, wie das geht«, sagte Joyce und setzte die letzte Elektrode – mitten auf Kaitlyns Stirn. Über ihr drittes Auge. »Ich konzentriere mich auf das Bild. Du entspannst dich.«
Kait murmelte etwas. Sie konzentrierte sich darauf, wie sich die letzte Elektrode anfühlte. Kalt, definitiv kälter als die anderen. Außerdem spürte sie auf der Stirn ein Kribbeln.
Als sie sich entspannte und sich in die Dunkelheit sinken ließ, wusste sie, was sie zu erwarten hatte.
Und dann kam es. Erst war es ein unglaublicher Druck hinter der Stirn, der sich in ein blähendes Gefühl verwandelte, wie ein Ballon, der aufgeblasen wird. Dann kamen die Bilder.
Sie blitzten ihr in dermaßen schneller Abfolge durch den Kopf, dass sie nur wenige erkannte. Sie sah Rosen und ein Pferd. Sie sah wieder Mr. Zetes vor der Geheimtür. Sie sah ein weißes Haus mit einem karamellfarbenen Gesicht im Fenster.
Und dann, völlig unerwartet, hörte sie Stimmen.
Anna: Kait – ich kann nicht denken – was ist los?
Lewis: Junge, Junge!
Rob: Halt durch!
Gleichzeitig hörte Kait zu ihrem großen Erstaunen klar und deutlich Gabriel sprechen. Was zum Teufel ist da los? Was habt ihr vor?
Sie zwang sich, die Bilder in ihrem Kopf zu ignorieren. Gabriel, wo bist du?
In der Exmoor Street.
Kaitlyn konnte es kaum glauben. Die Exmoor Street war mehrere Querstraßen vom Institut entfernt. Sie hatten die Erfahrung gemacht, dass telepathische Kräfte mit der Entfernung stark nachließen und eine klare Kommunikation gänzlich unmöglich war, wenn nur wenige Häuser zwischen ihnen lagen.
Doch Gabriel war deutlich zu hören – schmerzhaft deutlich.
Ich erklär es dir später, sagte Kait. Versuch es ein paar Minuten lang auszuhalten. Dann sagte sie zu Rob: Jetzt.
Sofort hörte sie einen dumpfen Schlag und anschließend
Fawns Stimme: »Joyce! Oh Hilfe — Rob hat sich verletzt!«
Kaitlyn blieb absolut unbewegt und mit geschlossenen Augen sitzen. Auf der anderen Seite des Wandschirms hörte sie ein Rascheln, und dann kam von Anna: Sie ist weg. Sie ist schon im hinteren Labor.
Kaitlyn öffnete die Augen und fasste sich an die Stirn. Die Elektrode ging leicht ab, aber etwas sehr Kleines blieb auf der Haut kleben. Sie tastete mit den Fingerspitzen danach.
Vorsichtig und mit klopfendem Herzen löste sie das winzige Ding von der Stirn.
Als sie es ansah, zwischen Daumen und Zeigefinger, war sie enttäuscht. Es war nur ein kleiner Klumpen Haftgel. Doch als sie mit den Fingernägeln daran kratzte, spürte sie unter der weichen Masse etwas Hartes, ebenfalls weißlich transparent und daher schwer zu sehen. Es war glatt und flach und hatte in etwa die Größe und Form eines Fingernagels.
Es sah aus wie ein Kristall.
Die ganze Zeit hörte sie gedämpft Stimmen aus dem anderen Labor. Pass auf, sagte Rob jetzt, Joyce steht auf.
Rasch klebte sich Kaitlyn den kleinen Kristall wieder auf die Stirn. Sie drückte die Elektrode darüber und betete, beides möge halten.
Sie kommt zurück, erklärte Lewis.
Da ist sie, sagte Anna.
Kait rubbelte sich das verräterische Gel, das sie noch an den Fingern hatte, an der Jeans ab. Sie nahm Bleistift und Klemmbrett zur Hand und begann zu zeichnen. Egal, was. Sie zeichnete eine Rose.
Der Wandschirm wurde zur Seite geschoben. »Kaitlyn, ich entferne die Elektroden jetzt wieder«, sagte Joyce gehetzt und beunruhigt. »Rob ist zusammengebrochen. Ich glaube, er hat sich übernommen mit dem Mädchen. Anna, Lewis, könnt ihr mir helfen, ihn hier auf die Couch zu legen? Er soll sich eine Weile ausruhen. «
Kaitlyn hielt still und ballte die Hände zur Faust, weil sie gemerkt hatte, dass sie immer noch Elektrodengel unter den Nägeln hatte. Sie war erleichtert, dass Joyce an der Elektrode auf ihrer Stirn offenbar nichts weiter auffiel. Sie beobachtete jedoch, dass sich Joyce, als sie diese Elektrode entfernte, kurz an die Brusttasche ihrer Bluse fasste, als stecke sie etwas weg.
Ist mit dir alles in Ordnung?, fragte
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