Visionen Der Nacht: Die Dunkle Gabe
»Mich würde interessieren, wie wir die Verbindung wieder lösen können.«
Anna gab ihm das Heft nicht. »Dazu komme ich gleich«, sagte sie. »Den Teil habe ich noch nicht gelesen, aber hier ist ein Abschnitt, in dem es darum
geht, wie man die Stabilität erschüttert und die Verbindung löst.« Sie überflog die Seite, während sie die Zeitschrift vor Gabriel abschirmte.
Die anderen warteten ungeduldig.
»Hier heißt es, das ist alles Theorie, weil bisher noch nie fünf Personen miteinander verbunden wurden … Wartet mal, hier steht, dass auch Verbindungen in größeren Gruppen stabil sein können … Okay. Hier. Ich hab’s.« Anna las vor. »›Die Verbindung wieder zu lösen dürfte schwieriger sein, als sie herzustellen, und auch mehr Energie erfordern.‹ Aber wartet mal, hier heißt es, dass es eine sichere Methode gibt – « Anna brach abrupt ab und starrte ungläubig die Seite an. Kaitlyn spürte ihr Entsetzen, ihre Bestürzung.
»Was ist denn?«, wollte Gabriel wissen. »Was steht denn da?«
Anna sah ihn an. »Hier steht, ganz sicher wird die Verbindung nur gelöst, wenn einer aus der Gruppe stirbt.«
Die anderen starrten sie entsetzt an. Es herrschte absolute Stille.
»Du meinst«, sagte Lewis schließlich, und seine Stimme zitterte, »dass das Netz uns nicht umbringt, aber dass die einzige Möglichkeit, es loszuwerden, darin besteht, dass einer von uns umkommt?«
Anna schüttelte den Kopf, allerdings nicht, um ihm
zu widersprechen. Es war eine hilflose Geste. »So steht es in dem Artikel hier. Aber es ist nur eine Theorie. Keiner weiß es genau …«
Gabriel schnappte sich die Zeitschrift. Er überflog den Artikel und blieb einen Augenblick völlig reglos stehen. Dann warf er die Zeitschrift wütend gegen die Wand.
»Das geht nicht mehr weg«, sagte er tonlos, drehte sich um und starrte in die Luft.
Kaitlyn zitterte. Seine Wut machte ihr Angst und mischte sich unter ihre eigenen Gefühle – Entsetzen und Furcht.
Vieles an der Verbindung hatte ihr durchaus gefallen. Sie war interessant, aufregend. Anders. Aber wenn sie sie nie wieder lösen konnten …
Mein ganzes Leben hat sich verändert, dachte sie. Für immer. Etwas … Unumkehrbares ist passiert, und wir kommen da nie wieder raus.
Ich werde nie mehr ganz allein sein, werde immer mit den anderen in Verbindung stehen.
»Zumindest wissen wir jetzt, dass es keinem von uns schadet«, sagte Anna ruhig.
»Und, wie du schon gesagt hast«, sagte Kaitlyn langsam, »der Artikel muss ja nicht stimmen. Es könnte auch noch eine andere Möglichkeit geben, die Verbindung zu lösen. Wir sollten weiterforschen.«
»Es gibt eine weitere Möglichkeit. Es muss eine
geben«, sagte Gabriel mit heiserer Stimme, die fast nicht wiederzuerkennen war.
Er ist von uns allen am verzweifeltsten, sagte sich Kait. Für ihn ist diese Nähe zu uns unerträglich.
Bis wir es wissen, bleibt mir nur von der Pelle, sagte Gabriels mentale Stimme, wie als Antwort auf Kaitlyns Gedanken. Hatte er sie gehört?
»Bis dahin«, sagte Rob leise, »sollten wir lernen, die Verbindung in den Griff zu bekommen.«
Kommt mir einfach nicht zu nahe!, rief Gabriel und stolzierte aus dem Zimmer.
Lewis, Anna, Rob und Kaitlyn starrten ihm hinterher.
»Warum ist er nur so wütend auf uns?«, fragte Lewis. »Wenn einer Schuld hat, dann doch wohl er.«
Rob lächelte schwach. »Deshalb ist er ja auch so sauer«, sagte er trocken. »Er mag es nicht, wenn er im Unrecht ist.«
»Das ist aber noch nicht alles«, sagte Kaitlyn. »Er hat uns geholfen und sich damit jede Menge Ärger eingehandelt. Das bestätigt nur seine Grundeinstellung, dass er sich besser mit niemandem einlässt.«
Es folgte ein längeres Schweigen. Wir haben es noch nicht so richtig verdaut, dachte Kaitlyn. Wir sind noch total überrumpelt.
Sie riss sich zusammen. »Die Regale sind ein Chaos. Am besten machen wir schnell Ordnung. Wir können
später noch nach Artikeln suchen, wenn Joyce mal nicht in der Nähe ist.«
Sie räumten in beiden Laboratorien die Bücher wieder ein und stellten die Zeitschriften in die Regale zurück. Sie waren fast fertig, als Kaitlyn einen weiteren Artikel fand, der ihr sofort ins Auge stach.
Jemand hatte die Seite mit einem roten Haftzettel in Fahnenform markiert. Der Titel lautete schlicht »Chi und Kristalle«.
Hallo, ihr? Was ist Chi?, fragte sie. Es fiel ihr selber schon gar nicht mehr auf, dass sie nicht laut sprach.
»Das ist ein chinesisches Wort für die Lebensenergie«, sagte
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