Vita Nuova
war nicht anders zu erwarten gewesen, alles ganz legal, alles im Rahmen des Gesetzes.
»Sie waren da erst sechzehn. Das muss schlimm für Sie gewesen sein?«
»Als wir klein waren, ist er immer in unser Zimmer gekommen und hat mit uns gespielt. Dann hat er gesagt, wir seien groß genug, um jeder ein eigenes Zimmer zu haben. Warum hat er das getan? Warum hat er mir mein Leben ruiniert? Warum?«
»Schschsch … beruhigen Sie sich, schschschsch.« Ihr Gesicht war rot angelaufen, ein klares Warnsignal. »Jetzt ist alles vorbei. Sie sind beide nicht mehr da. Sie haben Ihre Schwester erschossen, saubere Arbeit, sie hatte keine Chance.«
»Ich bin eine gute Schützin, nicht wahr? Papà hat das auch gesagt. Daniela war eine Niete.«
»Ganz bestimmt sind Sie eine gute Schützin. An der Tür war es einfach, nicht wahr, aber Sie haben auch dafür gesorgt, dass sie das Telefon nicht mehr erreichen konnte, und nicht ein einziges Mal haben Sie danebengeschossen. Die anderen haben das zwar gedacht, und selbst Fulvio hat das geglaubt, weil die eine Kugel das Foto von der Kommunion getroffen hat, aber das war kein Fehlschuss, nicht wahr?«
Sie weinte und lächelte gleichzeitig.
»Das ist jetzt alles nicht mehr wichtig. Ihr Vater und Ihre Schwester sind tot. Es ist vorbei.«
»Nein, nein, das ist es nicht. Es wird nie vorbei sein, niemals, wegen des Testaments.«
Nach dem ersten Schlaganfall, es muss nach dem ersten Schlaganfall passiert sein. Er hatte es die ganze Zeit gewusst, hatte aber nicht ans Testament gedacht. Wie blöd von ihm!
»Erzählen Sie mir von dem Testament.«
»Er hat’s im Krankenhaus gemacht, hat uns gesagt, er verteile das Erbe der Kinder gleichmäßig auf uns drei, auf mich, Daniela und Piero! Dabei hätte ich es sein sollen, ich hätte den Löwenanteil bekommen müssen, ich bin seine leibliche Tochter, Daniela hätte deutlich weniger bekommen müssen! Und Piero, Piero hat nur Anspruch auf das Erbe seiner Mutter.«
»Seine Mutter ist jetzt tot.«
»Und darum wird er zwei Drittel bekommen! Das ist ungerecht! Ich hätte mehr als die Hälfte bekommen müssen. Papà hatte kein Recht dazu. Ich war seine leibliche Tochter, sein einziges leibliches Kind! Was ist mit mir? Was ist mit mir?«
»Ich bin mir sicher, dass für Sie gesorgt ist …«
»Das ist nicht der Punkt!«
»Nein. Ich verstehe, dass Sie verletzt sind. Ich verstehe auch, dass Sie unter der Situation in Ihrer Familie sehr gelitten haben. Die Heimlichtuerei, die Schande … es muss sehr schwer gewesen sein, so zu leben, mit …«
»Aber warum? Ich war seine richtige Tochter. Ich war hübsch, ich hätte ihm ein Kind schenken können. Warum hat er nicht mich gewollt? Warum nicht? Warum hat er sie nach Hause geholt?«
Der Maresciallo hörte den Krankenwagen, an der Tür entstand leichte Unruhe.
Sie wehrte sich nicht, als man sie wegbrachte, hatte nicht einmal mehr einen letzten Blick für den einsamen Toten in seinem Sessel übrig. Sie schien ganz zufrieden, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Der Maresciallo folgte ihr, beobachtete sie, als sie ihr ins Auto halfen. Sie schaute hoch zu ihm, mit trockenen Augen.
»Fast könnte es mir leidtun … wegen Piero meine ich. Er war immer nett zu mir.«
»Das ist das erste Mal, dass ich zuerst den Fall lösen und anschließend die entsprechenden Ermittlungen durchführen musste.«
»Hoffen wir, dass dies auch das letzte Mal ist.«
Es war ein heiterer Septembermorgen, im Kreuzgang war es angenehm kühl. Die beiden Männer traten beiseite, um dem Wagen des Colonello Platz zu machen.
»Kommen Sie, lassen Sie uns drüben einen Kaffee trinken.«
Sie gingen kurz zur Café-Bar hinüber.
»Zwei Kaffee, bitte … Ihrer mit Schuss?«
»Nein, nein, danke.«
»Zwei Kaffee, bitte sehr! Capitano, Maresciallo, eine Kleinigkeit zu essen vielleicht? Brioches, Toast?«
»Für mich nicht, danke, aber bestellen Sie sich ruhig was, Guarnaccia.«
»Nein, ich darf nicht, leider. Meine Frau …«
»Totschlag also, das war zu erwarten, wenn die allerdings in die Berufung gehen … die haben erstklassige Rechtsanwälte und werden mit der üblichen Masche kommen: ›Gute Familie, intelligente Jungs, ruinierte Zukunft, Dummejungenstreich, keine böse Absicht …‹ Sie werden die Strafe herabsetzen. Würde mich wundern, wenn sie länger als achtzehn Monate sitzen müssen.«
»Und wenn es ›normale‹ Kinder gewesen wären, keine Zigeuner?«
»Wenn es keine Zigeunerkinder gewesen wären, wäre das
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