Vita Nuova
Rascheln eines Blattes hätte ihn aufgeweckt.
Als er die Augen wieder öffnete, war es noch dunkel. Er konnte sich nicht daran erinnern, was er geträumt hatte, und war sofort voll da, musste nicht darauf warten, dass er in die Realität zurückfand, dass ihm wieder einfiel, warum es ihm die Brust so zuschnürte. Er hatte das Gefühl, als hätte ein Teil von ihm überhaupt nicht geschlafen, sondern nur darauf gewartet, dass der Rest von ihm erwachte, um dort weiterzumachen, wo er aufgehört hatte. Es war halb vier in der Früh. Er stand auf, machte das Bett, wusch und rasierte sich und stieg in die Uniform. Vor dem Spiegel im Schlafzimmer betrachtete er sich wie einen Fremden. Und wenn er diese Uniform nie wieder tragen würde? Wer wäre diese Person in dem Spiegel dann? Zahllose Menschen kannten ihn als den Maresciallo, aber wer kannte ihn schon als Salvatore? Der ›Maresciallo‹ aber würde zukünftig sein Nachfolger sein. Die Leute gewöhnten sich schnell an neue Gesichter und würden ihn schon bald vergessen haben. Jetzt würde nur das geschehen, was bei seiner Pensionierung sowieso ablaufen würde, was also machte das schon?
Er würde eine Versetzung in die Pampa nicht akzeptieren. Er würde schon einen Weg finden, mit seiner Familie hier zu bleiben, in Florenz, wo sie glücklich waren, wo Teresa sich wohl fühlte und die Jungs sich eine Schule aussuchen konnten.
Auf dem Weg in die Küche, wo er sich einen Kaffee kochen wollte, schaute er in jedes Zimmer, als sähe er die Wohnung zum ersten Mal. Sie war wirklich sehr schön, komfortabel und großzügig geschnitten, aber sie gehörte nicht ihnen. Teresa hatte recht. Sie mussten die Planung ihrer Zukunft in Angriff nehmen.
Er setzte den Kaffee auf und wartete. Erst fraß ihn die Armee mit Haut und Haaren, dann ließ sie ihn fallen.
Er trank den Kaffee im Stehen, die Läden und Fenster weit geöffnet. Vom Boboli-Park drang schwüle Luft herein, aber auch reichlich Sauerstoff; das Zirpen der Grillen in den Sommernächten, das ihn sonst immer nur an seine Einsamkeit erinnert hatte, gehörte nun zu einem Teil seines Lebens, das sich immer weiter von ihm zu entfernen schien.
Nun ja, das war traurig, aber es gab Schlimmeres. Frauen, die geschlagen, und Kinder, die missbraucht wurden zum Beispiel. Und außerdem gehörte der Boboli-Park da draußen nicht der Armee. Es gab Hunderte Wohnungen mit Blick auf den Park. Krachend schloss er die Läden, spülte die Tasse aus und ging nach oben ins Büro.
Um diese Uhrzeit war es in dem kleinen Raum angenehm kühl. Der Computer tat ausnahmsweise einmal das, was er sollte, und Guarnaccia arbeitete eine volle Stunde konzentriert an seinem Bericht. Er versuchte erst gar nicht, ein Kunstwerk daraus zu machen, Gedanken und Fakten logisch zu verknüpfen. Er begann einfach am neunzehnten August und arbeitete sich bis zum heutigen Tage vor. Was für einen Unterschied machte es schon, wenn er daraus einen überzeugenden, logischen Fall konstruierte? Wenn es da draußen jemanden gab, der hören wollte, was er zu sagen hatte, würde er die Botschaft hören und etwas unternehmen. Aber wenn niemand es hören wollte …
Oben hatte er ein paar Zeilen freigelassen, wusste nicht, welchen Namen er dort einsetzen sollte. Den des Oberstaatsanwalts von Genua? Am ehesten. Aber vielleicht gab es ja jemanden, der sich speziell um solche Interessenkonflikte kümmerte. Doch selbst wenn dem so war, dann wüsste er nicht das Geringste über diesen Mann, welche sexuellen Vorlieben er hatte, zum Beispiel, ob er mit einem oder mit beiden Richtern auf der Liste befreundet war oder sogar vielleicht mit De Vita. Letzten Endes versuchte doch jeder nur, seine Leute in Schutz zu nehmen. Tat er nicht das Gleiche für Piazza?
Der Bericht war fertig, aber der Adressblock war noch immer leer. Ihm blieb nichts anderes übrig, als den Capitano zu fragen. Wenn auch er die Antwort auf diese Frage nicht wusste, so würde es für ihn zumindest ein Leichtes sein, sie herauszufinden. Er würde seinem Boss nichts erzählen, ihn nicht um Rat fragen. Er druckte den Bericht aus, steckte ihn in einen Umschlag, den er noch nicht verschloss, und befestigte mit einer Büroklammer das Formblatt für einen Einschreibebrief daran.
Dann öffnete er ein neues Dokument und schrieb einen Brief an das Oberkommando der Carabinieri:
Hiermit beantrage ich, Salvatore Guarnaccia, Noto, Syrakus, geboren am 16. …
Er hielt kurz inne: Würde er überhaupt Anspruch auf eine Pension
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