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Vittorio

Vittorio

Titel: Vittorio Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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rechte, die immer noch das Schwert umklammert hatte, so als wäre der Arm nicht abgetrennt worden. Sie setzte das Glied, das ich abgeschlagen hatte, an seinen ursprünglichen Platz. Ich beobachtete sie dabei. Ich beobachtete, wie sie das Glied wieder anfügte, es mit einer Drehbewegung festdrückte, bis es wieder so war, wie es sein sollte, und dann sah ich mit meinen staunenden Augen, wie sich die Wunde, die ich verursacht hatte, schloss und ihre weiße Haut makellos zu-rückließ. Darauf fiel der lockere, weite Ärmel ihres üppigen Samtgewandes wieder bis auf das Handgelenk.
    Schneller, als man blinzeln konnte, hatte sie sich aus der Kapelle entfernt und war nur noch eine Silhouette gegen den Feuerschein, der die Turmfenster über mir erhellte.
    Einzig ihr Flüstern klang noch herüber: »Vittorio.«
    Dann verschwand sie.
    Ich wusste, es war nutzlos, ihr zu folgen! Dennoch rannte ich nach draußen, schwang mein Schwert über dem Kopf und schrie voller Wut und Gram Drohungen gegen die ganze Welt heraus, während meine Augen blind vor Trä-
    nen waren und meine Kehle zugeschnürt, als müsste ich ersticken.
    Alles war still. Alle waren tot. Tot. Ich wusste es. Der Burghof war mit Leichen übersät. Ich rannte zurück in die Kapelle. Ich riss die Köpfe meiner Geschwister vom Boden hoch und hielt sie in den Armen. Ich setzte mich nieder und legte sie in meinen Schoß und schluchzte. Diese abgetrennten Köpfe, sie schienen noch so lebendig, die Augen glänzten, und die Lippen schienen sich zu bewegen in dem vergeblichen Versuch zu sprechen. Oh, Gott!

    Das konnte kein Mensch ertragen. Ich weinte jämmerlich.
    Ich fluchte.
    Dann ordnete ich sie Seite an Seite in meinem Schoß, diese beiden Häupter, und ich strich ihnen über das Haar und streichelte ihre Wangen und flüsterte ihnen tröstende Worte zu - dass Gott nahe sei, dass er bei uns sei, dass er uns in Ewigkeit behüte, dass wir im Himmel seien. Oh, bitte, ich bitte Dich, Gott, betete ich in meinem Innern, lass die beiden nicht mehr diese Gefühle, dieses Bewusstsein haben, die ihre Züge noch widerspiegeln. Oh, nein, das nicht. Ich kann es nicht ertragen. Ich kann nicht.
    Nein. Bitte!
    Bei Tagesanbruch, als die Sonne ihr anmaßendes Licht durch die Türen der Kapelle fallen ließ, als die Feuer aus-geglüht waren, als die Vögel sangen, als ob nichts geschehen wäre, da waren die unschuldigen Häupter von Bartola und Matteo leblos und stumm und ganz eindeutig tot, und ihre unsterblichen Seelen hatten sie verlassen, wenn sie nicht überhaupt schon in dem Augenblick davongeflogen waren, als das Schwert ihre Köpfe vom Körper getrennt hatte.
    Meine Mutter fand ich ermordet im Hof. Mein Vater lag tot auf den Stufen des Turmes, seine Hände und Arme waren mit Wunden bedeckt, als hätte er nach den Schwer-tern gegriffen, die ihn erschlugen.
    Sie hatten schnelle Arbeit geleistet. Kehlen durchschnit-ten. Und nur hier und da gab es Anzeichen eines heftigen Kampfes wie bei meinem Vater.
    Nichts war gestohlen worden. Zwei meiner Tanten fand ich in der äußersten Ecke der Kapelle und zwei im Hof, und sie trugen immer noch all ihre Ringe und Ketten und ihren Kopfschmuck. Nicht ein juwelenbesetzter Knopf war abgerissen. Und das war in der gesamten Anlage so.
    Die Pferde waren fort, das Großvieh hatte sich in die Wälder verstreut, und das Federvieh war davongeflogen.
    Ich öffnete das kleine Haus, in dem meine Jagdfalken gehalten wurden, nahm ihnen die Häubchen ab und ließ sie in die Wälder davonfliegen.
    Niemand war da, der mir hätte helfen können, die Toten zu begraben. Um die Mittagszeit hatte ich meine ganze Familie, einen nach dem anderen, in die Krypta gezerrt und ohne Umstände die Stufen hinabgestoßen; unten hatte ich sie alle sorgfältig hingelegt, Seite an Seite, so gut ich es konnte.
    Es war eine mühselige Aufgabe gewesen. Ich war kurz vorm Zusammenbruch, als ich ihre Glieder ordnete; zu-letzt war mein Vater an der Reihe.
    Ich wusste, dass ich das nicht für alle Toten in der Burg tun konnte; das war einfach unmöglich. Und außerdem, was immer es auch gewesen ist, das vergangene Nacht gekommen war, es konnte genauso gut zurückkehren, denn ich war als Einziger am Leben geblieben, und da draußen lief ein vermummter Dämon herum, der das wusste, ein boshafter Mörder, der mitleidlos zwei Kinder enthauptet hatte. Und wie die Natur dieses Todesengels auch beschaffen war, dieser wunderschönen Ursula mit ihren fast farblos weißen Wangen, dem schlanken Hals

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