Viva Espana
das stimmt doch gar nicht, du belügst dich selbst, meldete sich auf einmal eine kleine innere Stimme. Davina ignorierte sie jedoch und ließ den Tränen freien Lauf.
4. KAPITEL
Als Davina wach wurde, schien die Sonne strahlend hell durch die offenen Fenster ins Zimmer. Jamie stand neben dem Bett und tätschelte ihr ungeduldig den Arm.
„Komm, Mummy, du musst sehen, wie Daddy schwimmt. Er ist schneller als Superman!"
Sie blinzelte und vergewisserte sich, dass Ruy nicht mehr ne ben ihr lag. Bildete Jamie sich da nur etwas ein? Wie konnte Ruy, der an den Rollstuhl gefesselt war, schwimmen?
„Schnell, Mummy", forderte Jamie sie auf und zog sie am Nachthemd. „Beeil dich!"
Der Kleine hatte saubere Shorts und ein frisches T-Shirt an, sein Haar war ordentlich gebürstet, und er hatte seine Sandalen an. Irgendjemand musste ihn angezogen haben. Sie sah sich in dem Schlafzimmer um. Plötzlich kam Rodriguez herein. Ent setzt zog sie die Decke hoch.
„Rodriguez, schwimmt mein Daddy noch?" fragte Jamie.
Der Mann lächelte den Jungen liebevoll an und nickte. Davina wusste, dass Spanier kinderlieb waren. Jamie hatte sich offenbar mit Rodriguez schon angefreundet, sonst würde er sich nicht so ungezwungen benehmen.
„Erst hat Rodriguez meinem Daddy beim Waschen und Anziehen geholfen, dann mir", erklärte Jamie. „Du hast noch ge schlafen, Mummy. Ich wollte dich wecken, aber Daddy hat ge sagt, ich solle dich in Ruhe lassen. Ich frühstücke mit Daddy draußen im Patio. Wir kriegen frischen Orangensaft von richtigen Orangen. Dann zeigt Rodriguez mir, wo sie wachsen ..."
Davina hätte sich eigentlich freuen müssen, dass ihr Sohn in der neuen Umgebung so gut zurechtkam. Doch seine Begeisterung tat ihr weh. Beinah über Nacht hatte er sich von ihrem Baby in einen unabhängigen kleinen Jungen verwandelt, der genauso gern mit seinem Vater zusammen war wie mit ihr.
„Wenn ihr im Patio frühstücken wollt, stehe ich am besten rasch auf und ziehe mich an, sonst komme ich noch zu spät", erwiderte sie betont munter.
„Ja, beeil dich, Mummy. Komm, du musst sehen, wie wir schwimmen. Ich schwimme auch. Rodriguez hat mir einen Reifen und Schwimmflügel gegeben ..."
Sie wusste, dass er gern im Wasser war. Seit einigen Mona ten ging sie mit ihm regelmäßig ins Schwimmbad. Der Arzt hatte es empfohlen, damit der Kleine nach der langen Krankheit wieder kräftiger wurde.
Davina blickte Rodriguez an. Und als hätte er ihre Gedanken erraten, sagte er: „Ich passe auf ihn auf, Madame, bis Sie fertig sind. Dann muss ich Ihrem Gatten das Frühstück servieren."
Die Anrede hörte sich für sie jetzt wieder fremd an, obwohl sie sich während ihrer kurzen Ehe daran gewöhnt hatte. Egal, wie nahe Ruy und Rodriguez sich standen, der Mann würde nie auf die steife, aber korrekte Anrede verzichten. Das war in Spanien so üblich. Wenn Ruy vorgeschlagen hätte, Rodriguez solle ihn und seine Frau beim Vornamen nennen, wäre der Mann beleidigt gewesen.
Davina machte sich rasch fertig und zog ein fliederfarbenes T-Shirt an, das gut zu ihrer Augenfarbe passte, dazu einen bunten Wickelrock, der ihre schmale Taille und die langen Beine betonte. Das schlichte Outfit stand ihr gut, obwohl sie sich dessen nicht bewusst war. Als sie sich an die Modellkleider erinnerte, die ihre Schwiegermutter und Carmelita trugen, verzog sie das Gesicht. Natürlich konnte sie mit den beiden nicht konkurrieren. Aber das wollte sie auch gar nicht, oder?
Mit hoch erhobenem Kopf ging sie zum Swimmingpool. Es war noch relativ früh.
Trotzdem war die Luft schon warm. Das klare Wasser reflektierte die Sonnenstrahlen so stark, dass sich Davina vorsichtshalber ihre Sonnenbrille aufsetzte.
Jamie schrie vor Vergnügen. Ruy spielte mit ihm, er warf ihm einen riesigen Wasserball zu, den der Junge, der die Schwimmflügel an beiden Armen trug, zu fangen versuchte. Rodriguez stand am Beckenrand und passte auf das Kind auf.
Vater und Sohn waren so in das Spiel vertieft, dass sie Davina nicht bemerkten. Ihr verkrampfte sich das Herz, während sie den beiden zusah. Mit der gebräunten Haut, an der das Wasser hinunterrann, und dem nassen dunklen Haar, das ihm am Kopf klebte, wirkte Ruy völlig unverändert. Und als er den Wasserball kraftvoll in Jamies Richtung warf, fiel es ihr schwer zu glauben, dass er wirklich teilweise gelähmt war und in den kräftigen gebräunten Beinen kein Gefühl mehr hatte. Im Wasser bewegte er sich jedenfalls sicher und geschickt, schien sich jedoch
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