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Vögelfrei

Titel: Vögelfrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Andresky
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Gefühl von Übersensibilität, nachdem Seh- und Gehörsinn quasi ausfielen.
    Ich wippte leicht zu allen Seiten und berührte die Holzwände, um mich zu orientieren. Dann wartete ich. Die Panik war nicht da wie ein Schmerz, sie kam in Wellen.
Es ähnelte diesem Moment, wenn man plötzlich in der eigenen Wohnung eine große behaarte Spinne entdeckt und für den Bruchteil einer Sekunde glaubt, die Wahl zu haben zwischen Hysterie und Gelassenheit. Aber genau in dem Moment, in dem man meint, das Ganze bewältigt zu haben, überfällt sie einen, die Panik. Die Körpertemperatur sinkt schlagartig, man beginnt zu schwitzen, die Atmung stockt, der Puls rast, eine Gänsehaut überzieht Nacken und Arme. Und man hat keine Wahl mehr, keine Alternative mehr zur Angst.
    Ich versuchte, mich an alles zu erinnern, was Gemma mir erklärt und erzählt hatte. Über den Luftschacht, die Konstruktion der Kiste, den Zimmermann, der sie angefertigt hatte, die Scharniere, das Becken, das Unternehmen, das die Erde angeliefert hatte, die Kette, mit der der Perverse an seiner Rückenwand der Kiste gefesselt sein würde. Und vor allem: Er kam nicht an mich heran, Gemma hatte alles genau abgemessen, höchstens seine Zungenspitze konnte mich erreichen. Die Kiste war so eng, dass meine Nase, mein Kinn, meine Brustwarzen, der Bauch und die Oberschenkel das Gitter berührten. »Es geht ihm um den Thrill, es ist eine Fantasie«, betete ich mir immer wieder vor. »Es passiert nichts. Gemma würde mich nie in Gefahr bringen. Er kann seine Hände nicht lösen. Er kann nicht durch das Gitter.«
    Erst spürte ich einen Luftzug. Und dann seine Anwesenheit. Ich hatte auf einer Esoterikmesse einmal Aufnahmen einer Spektralkamera gesehen, die den Astralleib, die Aura eines Körpers abbildete. Aber ich hatte es für Humbug gehalten, für ein rein physikalisches Wärmefeld - bis zu diesem Augenblick. Ich spürte ihn. Und ich
wusste sofort, dass er gefährlich war, kalt, hinterhältig, bösartig. Ich spürte das, bevor ich ihn atmen fühlte und ihn roch.
    Kein Parfüm, nur ganz leichter Seifengeruch drang zu mir herüber und der Hauch einer Zigarette. Kein Atem, sondern der Rauch, der in der Kleidung steckte. Ich presste meine Kiefer aufeinander, er sollte nicht hören, dass meine Zähne vor Angst klapperten.
    Von oben kam ein Rumms, die erste Schaufel Erde. Gemma hatte Hilfskräfte dafür engagiert; sie selbst würde die Lüftung kontrollieren und versuchen, durch den Schacht zu hören, was unten passierte. Meine Haut war so von Gänsehaut überzogen, so gespannt, dass sie wie ein zu großer Neoprenanzug auf mir saß.
    Ich hatte mit einem Mal das Gefühl, wir hätten etwas übersehen, Gemma und ich. Und mit jeder Schaufel Erde, die auf uns prasselte und deren Erschütterung ich in der Kiste spüren konnte, verstärkte sich die Gewissheit, dass etwas schiefgehen würde, dass es für mich richtig gefährlich werden konnte. Mir wurde übel, die Knie gaben leicht nach. Einen absurden kurzen Moment lang hatte ich den Wunsch, einfach einzuschlafen, so wie man in Alpträumen manchmal mitten in der größten Anspannung wie von einer Regisseurstimme gefragt wird, ob man aufwachen möchte. Aber immer, wenn ich dachte, ich hätte mich jetzt unter Kontrolle und würde die fünf Minuten ab dem vereinbarten Klopfen auf dem Deckel schon überstehen, steigerte sich die Angst noch einmal. Ich war jetzt aufmerksam wie ein Raubtier oder vielleicht eher wie eine Beute. Ich konnte ihn atmen fühlen. Es waren ganz gleichmäßige, tiefe Züge, was in mir
das Gefühl verstärkte, die Verliererin dieses Spiels zu sein. Er war nicht einmal aufgeregt. Er blieb ganz ruhig und wartete ab, wartete auf die letzte Schaufel und darauf, dass wir allein waren. Allein auf der Welt, allein in seiner perversen Fantasie, in der er über mich herrschen konnte.
    »Wandering stars, for whom it is reserved / The blackness of darkness forever.« Ich wusste jetzt, dass es ein Fehler gewesen war, mich darauf einzulassen, und wollte nur noch, dass es schnell vorbei war. Was immer passieren sollte, es sollte jetzt anfangen. Und das tat es.
    Ich fühlte seine Zungenspitze am Kinn. Wie eine Nacktschnecke kroch sie auf mir herum. Ich fühlte den Speichel, erst warm, dann kalt, dann klebrig trocknend. Er beleckte mich. Die Einsamkeit und das Unausweichliche der Situation waren erschlagend. Ich hatte mich noch nie so ausgeliefert gefühlt. Und obwohl ich es in dem Moment nicht formulieren konnte, wusste ich, dass

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