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Vögelfrei

Titel: Vögelfrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sophie Andresky
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ich das nie wieder erleben wollte, dass es mir keinen Weg aufschließen, mich nicht bereichern oder stärken würde, dass hier eine Grenze überschritten wurde, die mich zu reinem Fleisch machte, und dass ich nie wieder etwas Ähnliches zulassen durfte.
    Ich versuchte, abzuschätzen, wie lange wir schon vergraben waren; vielleicht hatte ich die Hälfte der Zeit geschafft, vielleicht auch erst eine Minute. Immer noch saß mir das Gefühl im Nacken, dass er Gemma einen Schritt voraus war.
    Es fühlte sich im ersten Moment wie ein Kratzen an, wie ein Drähtchen, das über mein Kinn gezogen wurde. Ich versuchte, es einzuordnen und zu verstehen, was gerade
passierte. Ob ich es mir in der Panik vielleicht einbildete? Aber dann wiederholte sich das Kratzen auf der anderen Seite meines Kinns.
    Ich weiß bis heute nicht, wieso es mir plötzlich klar wurde, als hätte mir jemand die Augenbinde abgenommen und das Licht eingeschaltet. »Those who have seen the needles eye, now tread / Like a husk, from which all that was, now has fled / And the masks, that the monsters wear / To feed, upon their prey.« Etwas kratzte wieder durch mein Gesicht. Ich sah es ganz deutlich vor mir: seinen gegen das Drahtgeflecht gepressten Körper, die herausgestreckte Zunge und an deren Spitze etwas Blinkendes.
    Ein Piercing.
    Gemma hatte vergessen, seine Zunge noch einmal zu kontrollieren. Ich hatte mich nie für Piercings interessiert, ich wusste nicht, wie sie gestochen oder befestigt wurden, aber ich sah eine rote Zungenspitze mit einer Rasierklinge daran.
    Er zerschnitt mir das Gesicht. Ich war vergraben mit jemandem, der mir das Gesicht zerschnitt.
    Ich begann zu schreien und drehte den Kopf weg, glaubte aber weiterhin, das Kratzen überall auf der Haut zu spüren. Ich fühlte kaum Schmerz, es war ein hauchdünnes, kaum spürbares Gefühl, nicht vergleichbar mit dem, was man unter einer Tätowiernadel oder einem Messer erleben kann. Aber die Vorstellung, wie er mich zurichtete, war reine Folter. Ich konnte nicht abschätzen, wie tief die Schnitte waren. Ich malte mir mein Gesicht blutüberströmt und entstellt aus und konnte mein Schreien nicht mehr kontrollieren. Augenblicklich fing
die Kiste an zu ruckeln. Gemma ließ sie aus der Erde ziehen. Ich fühlte es schwanken, fühlte, wie die Tür geöffnet wurde. Ich fiel zurück, in ihre Arme, schnappte nach Luft, weinte, wimmerte. Jemand warf eine Decke über mich und trug mich weg.
    Halb ohnmächtig fand ich mich auf einem Sofa liegend wieder. Gemma nahm mir die Augenbinde ab und entfernte die Ohrstöpsel.
    »Es ist alles in Ordnung, es ist vorbei«, sagte sie immer wieder und rieb meine eiskalte Haut. Ich fasste mir ins Gesicht, das feucht war, und sah auf meine blutigen Hände. Bevor ich wieder anfangen konnte zu schreien, sagte Gemma auch schon: »Es ist alles in Ordnung. Es sind drei oder vier kleine Schnitte, aber sie sind ganz oberflächlich, da bleiben keine Narben, hörst du, keine Narben.«
    Ich wollte nur noch schlafen. Es kam mir so vor, als hätte ich mich schon seit Ewigkeiten gegen die Müdigkeit gewehrt. Ich hörte in meinem Kopf wieder die Stimme von Beth Gibbons. »Wandering stars, for whom it is reserved / The blackness of darkness forever.« Ich schloss die Augen, Gemma glitt neben mich auf die schmale Couch, und da lagen wir, bis es draußen hell wurde und sie mich in ihr Zimmer unterm Dach brachte.
    Aber es war nicht vorbei.
     
    Die Schnitte an meinem Kinn verheilten schnell. Nur der Perverse hielt sich nicht an die Abmachung, die er mit Gemma gemacht hatte.
    »Er hat Blut geleckt«, sagte sie, »im wahrsten Sinn des Wortes.«

    Er gab ihr die sichergestellten Drogenpäckchen nicht zurück, und er verschwand auch nicht aus ihrem Leben. Er stellte eine letzte Forderung: eine Sklavia. Mich. Keine Fesseln, keine Überwachung, keine Tabus, keine Regeln. Wir wussten beide, was das hieß.
    Gemmas Freundinnen aus Amsterdam und England reisten an. Ich sah ihren Stab erstmals vollzählig versammelt und auch eine Reihe von Frauen und Männern, die ich nicht kannte. Sie siezten Gemma und sprachen sie mit »Frau Manussen« an, was ich befremdlich fand. Sophia war mit ihrem Harem gekommen. Sie küsste mich herzlich auf beide Wangen, begutachtete meine fast verblassten Kratzer und stellte mir ihre Männer vor. Gemmas Freundinnen hatten dicke Mappen dabei, und bald waren alle im Club damit beschäftigt, zu telefonieren oder an Laptops zu arbeiten.
    Gemma hatte die Tische so aufgeteilt,

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