Vögelfrei
Gemma es herausfinden würde, ohne ihre Rolle als Teamleaderin eines Tierversuchslabors aufzugeben.
Es scharrte an der Tür. Ich öffnete. Vor mir kauerte ein dünner nackter kleiner Mann mit Plüschohren, langem weißen Schwanz, aufgeklebten Schnurrbarthaaren und angeklebten Nagezähnen, die bis weit über die Unterlippe reichten. Unser Kunde war da.
»Du bist nicht zart besaitet, das war wirklich eine harte Nummer«, sagte Gemma abends zu mir. Meinen blutbesprenkelten Kittel hatte ich im Labor gelassen, zusammen mit meiner Bluse. Ich musste mich einmal übergeben, was den Kunden seltsamerweise nicht wirklich irritiert hatte.
»Was war mit seinem Gesicht los?«, fragte ich, um nicht mehr an meinen kleinen Ausrutscher denken zu müssen. »Die Schnurrbarthaare sind implantiert«, erklärte Gemma, »das heißt, die Löcher dafür sind gepierct. Im Alltag hat er kleine Brillantenstecker im Gesicht. Wenn er zu mir kommt, nimmt er sie raus und schraubt die Schnurrbarthaare rein.« Sie strich mir mütterlich über die Wange. »Hast du jetzt genug?«
Merkwürdigerweise hatte ich das nicht. »Ich will auf die andere Seite. Weg von der Beobachterin. Ich bin nicht scharf auf Schmerzen oder Demütigung, aber ich möchte ein Mal diese Grenze spüren, vielleicht gar nicht überschreiten, nur wissen, wo sie liegt.«
In der Liebe wusste ich das offenbar nicht. Die war für mich grenzenlos. Möglicherweise hatte ich aber von meinem Mann zu viel gefordert. Vielleicht hatte ich einfach kein Gespür dafür, wie viel ich geben konnte, und dadurch nicht bemerkt, dass es ihm zu viel wurde. Auch meine Affären mit Hilde und Samir waren mir entglitten. Es erschien mir vollkommen logisch, auf Gemmas überwachter und durchdachter Spielwiese auszuprobieren, wer ich eigentlich war. Im Guten wie im Schlechten.
Gemma sah mich lange an. Ihre Augen waren groß und dunkel wie die einer Eule; überhaupt hatte sie heute Abend etwas Vogelartiges, halb Raubvogel, halb Glucke. Sie ging zu einer kleinen Nische, kramte darin herum und schob mir eine Mappe über den Tisch. Es war wie in einem Fernsehkrimi, wenn die Kommissarin fragt: »Erkennen Sie diesen Mann?«
Aber Gemma sagte erst einmal gar nichts. Ich öffnete die Mappe und sah Fotos von einem ganz und gar unscheinbaren Mann. Mittelgroß, mittelblond, mittelschlank. Er wäre mir in einer Menschenmenge nie aufgefallen. Manche Fotos waren unten im Club aufgenommen worden, andere offenbar heimlich mit Teleobjektiv. Dahinter steckten eng beschriebene Seiten, angeheftete Briefe, kleine Zettelchen, sogar ein vollgekritzelter Bierdeckel.
»Das ist jemand, den ich bisher als Kunden immer abgelehnt habe.« Gemmas Stimme klang dunkel und ernst, und zum ersten Mal sah man ihr an, dass sie mindestens Mitte vierzig sein musste.
»Ganz am Anfang, als ich mein Studio eröffnet habe, lief es sehr schlecht, die Leute waren noch nicht so weit, sich für ihre geheimsten Fantasien zu interessieren. Die
erwarteten gespreizte Schenkel und Lederpeitschen. Ich hatte private Probleme, und bei einer Razzia bin ich mit Koks und Heroin erwischt worden. Gekokst habe ich selbst, den anderen Stoff habe ich unten in der Bar vertickt. Er hier«, sie tippte auf das Foto, »hat damals den Einsatz geleitet.«
»Aber er hat dich nicht verhaftet?«
Sie schüttelte den Kopf.
Stattdessen hatte er sie erpresst. Er gab ihr das Geld, mit dem sie die ersten Inszenierungen für seine Freunde verwirklichen konnte. Das machte in den entsprechenden Kreisen die Runde, und ihr Geschäft lief. Seitdem kassierte er monatlich mit und fragte auch regelmäßig an, wann er endlich an der Reihe sei.
Ich überlegte, was er verlangen könnte, das Gemma nicht anbot. Kinder? Snuff? Kannibalismus?
Gemma zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht genau«, sagte sie. »Eine Freundin bietet in Amsterdam ähnliche Dienstleistungen an wie ich. Eine andere in London hat ein relativ konventionelles S/M-Studio, in dem aber auch Sonderwünsche erfüllt werden. Das war neulich in den Schlagzeilen wegen so einer Nazinummer und irgendeinem Formel-1-Promi, vielleicht hast du das mitbekommen. Wir tauschen uns regelmäßig aus und erzählen uns, was wir so an Gerüchten hören. Niemand weiß Genaues, nur dass der hier so pervers sein muss, dass er in sämtlichen Clubs, die wir drei kennen, Lokalverbot hat. Meine englische Freundin hat erzählt, dass er auf betäubte Frauen steht, deren Körpertemperatur heruntergekühlt werden muss. Dann ist wieder von
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