Voellig durchgeknallt
erster Gedanke: »Hat er einen Brief dabei?« So verzweifelt sehne ich mich nach einem guten Wort.
Schließlich habe ich mich nun aber damit abgefunden, dass meine Hoffnung auf eine Brieffreundschaft offenbar vergebens war. Menschen wie ich sind ja Kummer gewöhnt. Ich schreibe Ihnen also nicht mehr, falls der erste Brief zugleich Ihr letzter war. Chas, vielleicht finden Sie es schwierig, einem zum Tode Verurteilten zu schreiben, aber Sie können mir einfach von sich erzählen. Holen Sie ruhig weit aus. Ich finde alles spannend, wie alltäglich es auch sein mag, vor allem, wenn es von richtigen Leuten draußen in der Welt handelt. Nur
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keine falsche Scheu. Reden Sie frisch von der Leber weg und lassen Sie mich wissen, dass jemand an mich denkt.
Und dass ich Ihnen nicht gleichgültig bin. Hiermit möchte ich schließen. Es verabschiedet sich wieder aus Chas’ Leben –
Lenny Darling
Ich komme mir vor wie der letzte Schweinehund. Es ist ja nicht so, dass ich ihm nicht antworten wollte. Aber ich hatte zu viel anderes zu tun, mich um meinen Finger kümmern, Sattelschlepper klauen und mit Devil und seiner schnuckligen Schwester abhängen. Außerdem war ich damit beschäftigt, mir keine Sorgen darüber zu machen, dass meine Mutter auf einmal Lippenstift benutzt. Trotzdem hätte ich ihm antworten sollen.
Bis zur Pause ist es noch eine halbe Stunde. Ich reiße ein Blatt aus meinem Aufsatzheft und kritzle drauflos.
Lieber Lenny,
ich habe Ihnen nicht geschrieben, weil ich viel zu tun hatte. (Bestimmt vergeht die Zeit für Sie langsamer als für mich!) Ich muss mich viel um meine Mutter kümmern. Sie ist 68 und ziemlich hinfällig.
(Wenn Oma das hören könnte, würde sie mich umbringen.)
Mein Sohn kostet mich auch viel Zeit. Er geht gern mit mir ins Kino.
|69| (Mum fürchtet sich im Kino. Sie meint, das flackernde Licht und die Dunkelheit vertragen sich nicht mit ihren Medikamenten.)
In der Schule macht Mark sich ausgezeichnet. Er wurde zum Mannschaftskapitän gewählt.
(Mein Aufsatzheft inspiriert mich anscheinend.)
Außerdem hat er sich für einen Bodybuilding-Wettkampf angemeldet. Er stemmt fleißig Gewichte und trainiert täglich. Sie haben wahrscheinlich nicht oft Gelegenheit zum Trainieren. Bestimmt sind Sie ganz schön sauer, wenn Sie sich für unschuldig halten und schon zehn Jahre hinter Gittern sitzen. So ein Mist. Glauben Sie, es kommt tatsächlich so weit – Sie wissen schon?
Ich dachte, ich bin lieber nicht zu direkt, sonst ist er vielleicht gekränkt.
Hoffentlich haben Sie einen guten Anwalt. Gibt es in Amerika auch kostenlose Rechtshilfe?
Mit Rechtshilfe kenne ich mich aus, weil ich sie selber schon ein paar Mal in Anspruch genommen habe, und wenn ich so was einfließen lasse, klingt es bestimmt erwachsener.
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Hatten Sie ein Auto, bevor Sie ins Gefängnis gekommen sind? Ich fahre einen Jaguar E Typ. Wenn ich an der Ampel stehe, machen die anderen Leute große Augen. Der Wagen schluckt viel Benzin, aber er fährt sich ausgesprochen komfortabel.
Es klingelt zur ersten Pause und ich finde, das reicht. Ich unterschreibe, aber dann fällt mir noch etwas ein.
PS: Marks Freundin heißt mit Nachnamen Juby, nicht Tuby. Ihr Bekannter von damals muss jemand anders sein.
Ich falte den Brief zusammen und stecke ihn weg. In der Mittagspause kann ich ihn einwerfen.
Dann gehe ich zu Mathe, weil mir nichts Besseres einfällt.
»Was sehen meine trüben Augen?«
Mr Fuller, mein Mathelehrer, ist wieder mal zum Scherzen aufgelegt. »Bist du’s wirklich, Chas Parsons?«
»Nein, Sir, es ist mein missratener Zwillingsbruder«, antworte ich.
Fuller tut so, als hätte er nichts gehört. »Das ist ja wie Weihnachten und Ostern zusammen!« Er zieht die Jalousie hoch und schaut zum Fenster raus. »Weht uns ein Sternwind an? Gibt es eine doppelte Sonnenfinsternis?«
»Sehr witzig, Sir«, brummle ich. »Wie wär’s, wenn Sie tun, wofür Sie bezahlt werden, und uns was beibringen?«
Ein paar Mädchen kichern.
|71| »Mr Parsons, ich fühle mich wirklich sehr geehrt, dass Sie sich uns anschließen. Und zwar das erste Mal seit …«, er sieht im Klassenbuch nach, »… vier Tagen.«
Er kommt zu mir. »Du musst dich ranhalten. Vor allem jetzt, so kurz vor den Prüfungen.«
»Dann machen Sie am besten mit dem Unterricht weiter.« Alle drehen sich nach mir um und ich fühle mich unwohl. Ein andermal hätte ich noch ein Weilchen mit ihm
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