Vogel-Scheuche
das nicht besonders schätzen würde. Das betraf auch das Fliegen. In Xanth untersagte der Simurgh jegliches Fliegen in ihrer unmittelbaren Umgebung, und das galt wahrscheinlich auch hier. Also stand ihr ein mühsamer Aufstieg bevor.
Metria formte Hände und Füße zu großen Saugnäpfen. Die preßte sie gegen die glatte Oberfläche der nächstgelegenen Facette und begann mit dem Klettern. Die Saugnäpfe knallten jedesmal, wenn sie sie ablöste, und quietschten, sobald sie sie weiter oben gegen den Berghang preßte. Das war auch so eine Magie: daß Sauger an glatten, polierten Oberflächen hafteten. In diesem Tempo dürfte es nur einige Stunden dauern, bis sie den Gipfel erreicht hatte. Dann würde sie endlich erfahren, was hier überhaupt los war.
Sie vernahm ein Rumpeln. Sie streckte den Hals, bis er dem eines Schwans glich, und ließ den Kopf kreisen, um zurückzublicken.
Sie nahm eine schwebende Gestalt wahr, und es war nicht die von H e len Höllenfahrt. Es war Fracto Cumulo Nimbus, die fürchterlichste aller Wolken.
Sie wußte, daß das Schlimmes bedeutete. Fracto war selbst ein Dämon, der sich auf Meteorologie spezialisiert hatte und über ein sicheres Gespür für Ärger verfügte. Wenn irgend jemand ein Picknick veranstaltete, kam Fracto herbei, um es zu verregnen. Mußte jemand in dringender Mission möglichst schnell vorankommen, schwebte Fracto heran, um die Wal d wege in regelrechte Sümpfe zu verwandeln. Lagerte jemand in warmer Nacht im Freien, schwebte Fracto vorbei, um die ganze Landschaft mit buntem Schnee zu bedecken. Und wenn jemand zufälligerweise gerade eine Smaragdsteilwand erklomm, durfte Fracto nicht fehlen, um die O berfläche möglichst rutschig zu machen und ihn davonzupusten.
Natürlich gab es Möglichkeiten, sich der bösen Wolke zu erwehren, und Metria wußte darüber gut Bescheid. Sie könnte sich beispielsweise selbst in eine Wolke verwandeln und unberührt vom Wetter dahi n schweben. Ja, sie könnte sogar selbst einige Blitze erzeugen und ihm damit antworten. Doch war sie sich nicht sicher, ob das nicht als Flu g manöver galt, was den Simurgh verärgern würde. Fracto war es natürlich völlig egal, wen er verärgerte – nein, genaugenommen war es ihm übe r haupt nicht egal, weil er immer möglichst viel Ärger anrichten wollte. Andererseits war er aber auch nicht hier, den großen Vogel um einen Gefallen zu bitten. Diese Möglichkeit schied also aus. Einmal hatte sie sich in ein Stinkhorn verwandelt, das dann in Fractos Körpermitte ex p lodiert war, was aus ihm einen noch unerträglicheren Stinker als gewöh n lich gemacht hatte. Andererseits müßte sie sich dazu in die Lüfte erh e ben, und das schien ihr das Risiko nicht wert zu sein.
Sie könnte dem Gewitter auch gänzlich entgehen, indem sie sich s o weit auflöste, daß sie durch die Substanz des Bergs selbst in die Höhe schwebte. Doch auch das mochte ihr vielleicht als Flug ausgelegt werden. Da erschien es das Sicherste zu sein, bei dem zu bleiben, was sie gerade tat: mühsam den Berg zu besteigen und darauf zu hoffen, daß sie den Halt nicht verlieren würde, gleich was die Wolke für Unfug anstellen mochte.
Fracto nahm diese Herausforderung nur zu gern an, denn er wußte, daß sie in einer Zwickmühle war. Er blähte sich furchtbar auf und kni s terte vor Donner und Blitzen. Seine Mitte wurde so dunkel, daß sie einer strudelnden Mitternacht glich, und seine Kanten dehnten sich wie riesige Beulen aus. Insgesamt glich er einer großen Fratze mit zwei Flecken aus glühenden Augenwolken und einem gewaltigen runden Maul, aus dem eisiger Luftzug entwich. »Iiiiich haaaaaabe diiiiich!« heulte er und pustete Rauch in ihre Richtung.
Regen prasselte gegen die Steilwand, und um Metria herum schoß das Wasser in die Tiefe. Es war kalt, gleich würde es eisig werden. Ihre Sau g näpfe hielten dem zwar stand, doch wie sollte sie auf dieser nassen Obe r fläche weiter nach oben gelangen.
Jetzt plusterte Fracto sich wie ein Blasebalg noch weiter auf und schickte ihr einen Windstoß entgegen, der mit Hagel durchsetzt war. Metria zog den Kopf schützend ein, aber das hatte den Nachteil, daß sie nun nicht mehr sehen konnte, wo es hinging.
Das war keine Lösung. Es würde nicht allzulange dauern, bis Fracto ihr den Halt geraubt hatte, und dann würde sie in die Tiefe stürzen, so daß ihr nichts anderes übrig blieb, als zu fliegen oder unten zu zersche l len. Zwar konnte ein Sturz ihr körperlich nicht wirklich etwas
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