Vogelfaenger
schöner, stiller Sommermorgen. Der Sand und die kleinen grauen Steinchen knirschen unter meinen Füßen, auf dem Wasser schwimmt eine Schwanenfamilie mit fünf Jungen und mein Hund jagt einer blaugrünen Libelle nach.
Ich hole mein Handy aus der Hosentasche – keine SMS von Tobias – und telefoniere mit Mama. Sie freut sich, meine Stimme zu hören, und fragt, ob auch alles in Ordnung sei, ob wir uns auch gut verstehen und nicht streiten.
»Warum sollten wir uns denn streiten?«
»Ich weiß ja nicht, wie sie so ist, deine neue Freundin«, erklärt meine Mutter. »Es gibt viele Gründe, sich zu verkrachen, wenn man so verschieden ist, wie ihr es seid. Geld, die Fragen, was man isst oder wohin man ausgeht …«
»Bisher haben wir noch keinen Cent ausgegeben. Außerdem sind wir nicht so verschieden«, sage ich, bin mir aber nicht mehr sicher, ob das stimmt. Manchmal kommt sie mir vor wie das berühmte stille, aber tiefe Wasser, von dem man beim Durchschwimmen nicht weiß, ob einen nicht ein Ungeheuer unter der Oberfläche erwartet. Ich dagegen bin wie Rocky: ein Hund, der laut bellt, aber nicht beißt.
»Übrigens hat Tobias angerufen. Ich weiß aber nicht, was er wollte, weil Malte am Telefon war. Dein Bruder wird jetzt fleißig. Er plant sogar eine Reise, will an einem Blockseminar einer anderen Uni teilnehmen. Heute Nachmittag geht’s schon los.«
»Das glaubst du ihm doch wohl nicht! Der fährt zu irgendeiner Party.«
»Nimm mir nicht die Hoffnung«, sagt sie zum Abschied und schmatzt mir zwei Küsse ins Telefon, einen für mich, einen für Rocky.
»Ob Tobi wieder mit mir anbändeln will?«, frage ich meinen tierischen Freund, als ich mir einen Stock greife. »Da muss er sich aber schon was einfallen lassen.« Ich schleudere den Stock, so weit ich kann, und Rocky rennt begeistert hinterher. Hoffentlich, denke ich, spannt Tobias meinen supernaiven Bruder nicht dafür ein, mich zurückzugewinnen. Malte würde ich es locker zutrauen, dass er den noch kranken Tobi hierherkutschiert, damit er mir live einen Rosenstrauß überreichen und seine ewige Liebe eröffnen kann. Wie im Fernsehen. Für einen Moment bin ich versucht, mich bei Tobias zu melden, gebe schon seinen Namen ein, versage es mir dann aber doch. Soll er schmoren! Jetzt bleibe ich zur Abwechselung mal hart.
Ich verlasse das Ufer und nehme als Rückweg einen Trampelpfad, der sich durch den bewaldeten Hügel hinaufschlängelt und von dort in einem Bogen zum Campinglatz zurückführt. Meine Gedanken wandern zu Tobi: zum einzigen gemeinsamen Kurzurlaub, den wir je zusammen hatten, zwei schlaflosen Tagen Amsterdam mit Maltes Clique, Besuche der Coffeeshops natürlich inklusive. Beide waren wir begeistert von der Stadt, genossen Grachten, Straßenmusik und Sonne, bis ihm sein Portemonnaie geklaut wurde und er daraufhin vorschlug, im Sommer nicht auf eigene Faust mit dem Rad durch Holland zu touren, sondern – oh Schrecken – sicherheitshalber mit mir und seinen Eltern an die Ostsee zu fahren, in die gleiche Pension, die sie schon seit Jahrzehnten buchen.
Meine Gefühle schwanken zwischen Wehmut, Sehnsucht und Frust hin und her; meine Füße wandern auf unebenem Grund und meine Augen sind so konzentriert auf den Boden geheftet, dass ich völlig überrascht bin und überhaupt nicht verstehe, warum Rocky plötzlich stehen bleibt und knurrt.
»Hey, Kleiner, was ist?«, frage ich und sehe mich um. Kein Hund und kein Mensch zu sehen. Der Wald steht lichtdurchflutet da, goldgrün leuchten die Blätter der Bäume in der Morgensonne, roter Fingerhut blüht, Mücken summen, irgendwo zwitschert eine Amsel. Rocky aber kriegt sich nicht ein, er grollt so unheilvoll, als wäre irgendwo hier, hinter einem der Baumstämme, in einem der dichten Büsche, irgendwo zwischen Gehölz, Lehm und Sand eine Gefahr, aber ich sehe beim besten Willen nichts, wir sind allein. »Schhhht, Rocky, was hast du denn heute? Schon wieder Blähungen?«
Ich stutze. Und wenn er heute Nacht gar keine hatte? Wenn Ida sich genauso wenig eingebildet hat, dass jemand ums Zelt schleicht, wie ich mir jetzt einbilde, beobachtet zu werden?
Ach komm, Nele, spinn nicht rum, nur weil deine Freundin schlecht träumt und ihr alle beide keine Natur gewohnt seid.
Ich habe mich gerade in Bewegung gesetzt, da meldet sich ein Handy. Nicht meins, ein fremdes. Aber es klingt so nah, als stecke es direkt in meiner Hosentasche.
Rocky bellt. Ich fahre herum. Wer ist da?
Niemand ist zu sehen, nur Blätter,
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