Vogelfrei
Cuchulain hat sich bestimmt nicht so angestellt, wenn er mal eine Nacht nicht in seinem Bett schlafen konnte.«
»Falls es dir noch nicht aufgefallen ist - ich bin weder ein Ire, noch bin ich ein Held. Ich habe auch nicht die Absicht, für irgendjemanden den Wachhund zu spielen oder irgendwelche übermenschlichen Heldentaten zu vollbringen.«
»Demnach hast du schon einmal von Cuchulain gehört?«
Er nickte, hielt aber nach wie vor die Augen auf den Boden gerichtet. »Er hat einen Hund getötet, der einem Mann namens Culain gehörte. Um den angerichteten Schaden wieder gutzumachen, hat er für eine Weile den Platz des Tieres eingenommen. Deswegen wurde er Cuchulain genannt. Culains Hund. Er hat sozusagen einen menschlichen Wachhund gespielt.«
»Ausgezeichnet. Es freut mich, dass du wenigstens mit den alten Geschichten vertraut bist, wenn du schon kein Gälisch sprichst.«
»Alte Sagen und Legenden sind mein Hobby, und glaub mir, es ist gar nicht so einfach, sie zusammenzutragen. Über schottische und irische Volkshelden gibt es nicht so viel Material wie über Robin Hood oder König Artus.«
»Und was weißt du sonst noch über Cuchulain?«
»Dass er ein grausamer Mensch war, der die Leute zu hunderten umbrachte, bis er schließlich selbst im Kampf getötet wurde. Doch ehe er starb, band er sich noch an einem Felsen fest, damit sein Leichnam aufrecht stehen blieb.«
»Natürlich musste er seine Feinde töten, er hat ja schließlich nur sein Volk verteidigt. Aber er stand immer zu seinem Wort und tat stets das, was er für richtig hielt, auch wenn er sich dadurch selbst in Gefahr brachte. Und seine Frau liebte ihn so sehr, dass sie sich, als er beerdigt wurde, auf sein Grab warf und starb. Er war ein großer Mann.«
Dylan lächelte schief. »O ja, scheint ein echt toller Typ gewesen zu sein.«
Er hatte erwartet, dass die Männer, die in der Burg lebten, auch dorthin zurückkehren würden, aber stattdessen steuerten sie auf ein riesiges Feuer im Zentrum des Dorfes zu. Ein paar Frauen, die Dylan schon in der Burg gesehen hatte, eilten geschäftig umher, bereiteten das Essen zu und boten den heimkehrenden Männern Erfrischungen an. Kinder rannten kreischend und quiekend umher. Dylan konnte nicht feststellen, zu wem sie gehörten, es sah so aus, als würden sich alle Erwachsenen gleichermaßen um alle Kinder kümmern.
Die Männer wuschen sich in hölzernen Eimern, die auf über Schemel gelegte Bretter gestellt worden waren. Dylan gesellte sich zu ihnen, rollte seine Ärmel hoch und spülte sich Schweiß und Schmutz von Armen, Gesicht und Händen. Da es keine Handtücher gab, musste er sich an seinem Hemd abtrocknen. Die Bartstoppeln in seinem Gesicht begannen zu jucken, und er wünschte sich, irgendwo eine Rasierklinge auftreiben zu können. Jemand drückte ihm einen Becher in die Hand, er schnupperte misstrauisch daran und probierte dann einen Schluck. Bier. Nein ... er trank noch einmal. Kein Bier, sondern ... Ale? Das Getränk schmeckte vollmundiger und weicher als Bier und ließ sich schneller trinken, weil es nicht so viel Kohlensäure enthielt. Dylan blinzelte in den Becher. Wenn das tatsächlich echtes Ale war, dann konnte er sich daran gewöhnen. Das Bier, das er kannte, schmeckte im Vergleich dazu bitter und wässrig.
Schlagartig überkam ihn eine abgrundtiefe Erschöpfung. Er fragte sich, wo die anderen ihre Energie hernahmen. Die Bewohner von Glen Ciorram bereiteten sich anscheinend auf ein Festessen vor. Fleisch brutzelte über dem Feuer, frische, noch warme Brotlaibe wurden herumgereicht, und jeder Mann schien bestrebt zu sein, vor dem Essen so viel Ale wie nur möglich hinunterzustürzen. Zwar herrschte nicht gerade Festtagsstimmung, aber Dylan begriff, dass jetzt die Zeit der Muße gekommen war und jeder den verdienten Feierabend genießen wollte. Als die Sonne unterging und die abendliche Kälte hereinbrach, rückten die Männer näher ans Feuer und zogen ihre Plaids und Mäntel enger um sich. Dylan fand ein Plätzchen zwischen einer alten Frau, die auf einem Schemel saß, und einigen Männern, die sich einen Baumstamm teilten. Mit untergeschlagenen Beinen ließ er sich auf der Erde nieder und fühlte sich in seine Pfadfinderzeit zurückversetzt.
Holzplatten mit Fleisch und Brot machten die Runde. Die Männer aßen mit den Händen und spülten die Bissen mit Ale hinunter, während sie sich leise miteinander unterhielten. Dylan war zu hungrig, um sich wegen des fehlenden Bestecks Gedanken zu
Weitere Kostenlose Bücher