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Vogelfrei

Titel: Vogelfrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julianne Lee
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höher und immer höher gehoben. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, als er nach unten blickte. Er befand sich bereits in Schwindel erregender Höhe über dem Erdboden. »Tink«, warnte er mit zittriger Stimme, »hör sofort auf mit dem Unsinn.«
    »Och, das ist ganz harmlos. Sieh dich nur um, dann kannst du deine Frage selbst beantworten. Du schwebst jetzt ungefähr dort, wo früher das Dach des Turmes war.«
    Dylan straffte sich und sah sich neugierig nach allen Seiten um. Sinann erklärte: »Ehe dieser broch langsam in sich zusammenfiel, konnte man von seiner Spitze aus über die Bäume hinweg und über den gesamten Ostteil des Tales blicken. Dies ist der einzige Zugang über Land zu der Burg deines Lairds.«
    Jetzt endlich begriff Dylan. »Das hier war also früher ein Wachturm, wo man Posten stationiert und jeden abgefangen hat, der sich auf dem Weg durch dieses Tal dem Dorf näherte. Die Abkürzung, die wir genommen haben, haben die Boten benutzt, um die Leute in der Burg vor einem Angriff zu warnen.«
    »Aye. Du bist gar nicht so dumm, wie du aussiehst.« Dylan verzog unwillig das Gesicht und musterte sie aus schmalen Augen. »Nur ist dieser Turm ein gutes Stück älter als die Burg; einst war er das einzige Gebäude hier in der Gegend. Von hier führte auch ein Pfad hinunter zu den Booten am Ufer des Sees, aber das war vor meiner Zeit.«
    In der Mitte des Tales lag ein langes, niedriges, von Feldern umgebenes Steinhaus. »Was ist denn das?«, wollte Dylan wissen.
    »Das sind die Unterkünfte, die die Sassunaich für ihre rot berockten Bastarde gebaut haben. Wenigstens waren sie klug genug, darauf zu achten, dass die Barracken von der Burg aus nicht gesehen werden können. Hier sitzen sie nahe genug am Dorf, dass man sich ihrer Gegenwart stets bewusst ist, aber sie befinden sich nicht in unmittelbarer Reichweite, falls die Dorfbewohner einmal auf die Idee kommen sollten, den Soldaten ihre zahlenmäßige Unterlegenheit vor Augen zu führen.« Dann seufzte sie leise. »Übrigens wissen die Engländer ebenso gut wie die Erbauer dieses Turmes, dass dies der schnellste Weg über Land nach Glen Ciorram ist.«
    Dylan starrte so eindringlich auf die Barracken, als könnte er sie fortzaubern, dann bat er: »Lass mich jetzt endlich wieder runter.« Sinann kicherte boshaft, ließ ihn abrupt fallen und fing ihn erst kurz über dem Boden ab, um ihn sanft abzusetzen.
    Sowie er sich von seinem Schrecken erholt hatte, betrachtete Dylan das verfallene Bauwerk genauer. Eine abbröckelnde Steintreppe erhob sich innerhalb der runden Mauern spiralförmig nach oben und endete an einem Fenster. Direkt davor wuchs eine riesige Eiche, deren Äste in das Innere des Turmes hineinragten und so sowohl drin-nen wie auch draußen Schatten spendeten. Die ehemalige Feuerstelle, nichts weiter als eine flache, mit Steinen umrandete Grube von der Größe eines Autoreifens, lag genau in der Mitte des Turminneren und war zum Teil mit Gras überwuchert. Dylan nahm an, dass der Rauch durch ein Loch in der Decke abgezogen war. Überall lagen Stücke des in sich zusammengefallenen Mauerwerks herum. Dylan ließ sich auf einem großen Steinbrocken nieder, der mit Moos und Flechten bewachsen war. In dem Gras zu seinen Füßen sprossen lauter kleine schwarze Pilze.
    Dann wandte er sich an Sinann, die auf dem Boden kauerte. »Wozu brauchst du mich eigentlich, wenn du doch über magische Kräfte verfügst?«
    Er sah, wie sich ihr Gesicht verfinsterte,und wusste sofort, dass er das Falsche gesagt hatte. Zuerst dachte er, sie würde ihm keine Antwort geben, doch schließlich sagte sie bitter: »Es gab einmal eine Zeit, da hätte ich dich nicht gebraucht. Und glaub mir, ich wünschte, dem wäre noch so, denn ich glaube nicht, dass du mir eine große Hilfe sein wirst.« Wieder schwieg sie eine Weile, dann forderte sie ihn auf: »Sieh einmal genau her.«
    Sie winkte mit der Hand, und ein Ziegenbock tauchte in der Mitte des Tales auf. Er blickte sich um, meckerte, kam zögernd näher und meckerte erneut. Dylan zuckte mit den Achseln. »Und? Das ist nur ein ganz gewöhnlicher Ziegenbock.« Er hielt dem Tier die Hand hin, um es daran schnuppern zu lassen, zog sie aber sofort zurück, als es vorsichtig daran zu knabbern begann.
    »Jetzt sieh zu, wie ich das rückgängig mache, was ich soeben getan habe.« Auf eine weitere Handbewegung hin brach der Bock auf dem Gras zusammen. Erst dachte Dylan, das Tier sei gestolpert und gestürzt, aber als er genauer hinsah,

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