Vogelfrei
waren Rhythmus und Melodie dieses Songs und des Gesangs der Frauen nahezu identisch. Dylan ließ sich mitreißen, vollführte ein paar unbeholfene Tanzschritte, schlenkerte mit den Armen und warf sein Haar zurück, während er aus vollem Halse mitsang. Dann drehte er eine kleine Pirouette - und stand plötzlich der Tochter des Lairds gegenüber.
Ihre Augen funkelten belustigt, und als er sich verlegen abwandte, konnte sie nicht mehr an sich halten, prustete los, schlug jedoch sofort eine Hand vor den Mund, sodass ihr Gelächter eher wie ein Schnauben klang. Dylans Wangen brannten, am liebsten wäre er davongelaufen, doch seine Beine gehorchten ihm auf einmal nicht mehr. Stattdessen drehte er sich langsam, wie von unsichtbaren Fäden gezogen, zu ihr um, um sie anzusehen. Da sonst niemand in der Nähe war, wollte er sich ihr Gesicht ganz deutlich einprägen, um es sich später, wenn sie wie gewohnt von männlichen Verwandten umgeben war und er keinen Blick riskieren durfte, wieder ins Gedächtnis rufen zu können.
Sie ging um ihn herum zum Wasser hinunter. Zögernd folgte er ihr, dann fragte er: »Geht Ihr auch zum Waschplatz?«
»Wohl kaum.« Sie breitete die Arme aus, um ihm zu zeigen, dass sie keine Wäsche bei sich hatte, dann hielt sie ihm ein kleines Küchenmesser hin. »Ich will zu der Weide dort. Diesen Winter werde ich eine große Menge Rinde brauchen.«
»Weidenrinde? Wofür denn?«
»Der Tee, den ich Euch für Euren Kopf gegeben habe, war daraus gebraut. Die Rinde lindert Schmerzen.«
Dylan tastete seine inzwischen verheilte Schädeldecke ab. »Verstehe. Dann sammelt nur so viel davon, wie Ihr braucht. Lasst Euch von mir nicht aufhalten.« Doch als sie sich zum Gehen wandte, hielt er sie zurück. »Ich bin übrigens Dylan Matheson.«
Ein Lächeln spielte um ihre Lippen. »Ich weiß.«
Er sprach rasch weiter, um zu verhindern, dass sie weiterging. »Es tut mir Leid, ich bin zwar schon seit einiger Zeit hier, aber ich kenne Euren Namen immer noch nicht.« Das war zwar eine Lüge, aber etwas Besseres fiel ihm auf die Schnelle nicht ein.
Ihr Lächeln glich jetzt mehr einem Grinsen. Einen Moment lang fürchtete er, sie würde ihn einfach stehen lassen und ihrer Wege gehen, doch sie sagte nur: »Mein Name ist Caitrionagh Matheson. Oder Caitrionagh Niclain, wenn Ihr so wollt. Iain Mór ist mein Vater; demnach seid Ihr mein Vetter.«
Dylan blickte sich viel sagend um. »Gibt es hier jemanden im Umkreis von einer Meile, der nicht zu Euren Vettern zählt?«
Sie nickte ernsthaft, obwohl er die Frage als Scherz gemeint hatte. »Sicher. Meine Eltern und meine Onkel.«
Verlegenes Schweigen machte sich breit. Dylan zermarterte sich den Kopf, doch ihm fiel keine geistreiche Bemerkung ein. Ihre Augen schlugen ihn in ihren Bann. Sie waren riesig und von einem so tiefen Blau, wie er es noch nie zuvor gesehen hatte. Ihre Haut schimmerte so blass wie das Mondlicht, nur auf ihren Wangen lag ein rosiger Hauch. Es sah aus, als glühe sie von innen heraus. Als sie Anstalten machte, zu der Weide hinunterzugehen, platzte er, ohne zu überlegen, heraus: »Wieso arbeiten diese Frauen am Sonntag?«
Diesmal wirkte ihr Lächeln ein wenig nachsichtig. »Wann sonst bekommen sie wohl die Hemden der Männer in die Finger?« Dann streckte sie die Hand aus und zupfte ihn am Ärmel. »Eures könnte auch eine Wäsche vertragen.«
Wem sagte sie das? Achselzuckend hielt er sich den Stoff ein Stückchen vom Körper weg. Inzwischen klebte ihm auch das neue Hemd auf der Haut, und beide Kleidungsstücke starrten vor Schmutz und wiesen große Schweißränder auf. »Ich weiß leider nicht, wie ich es sauber bekommen soll.«
»Das verlangt auch niemand von Euch. Also kommt, zieht Euer Hemd aus, ich werde es zu Seonag bringen, die auch für meinen Vater wäscht.« Auffordernd hielt sie ihm die Hand hin.
Dylan zögerte. Da es ihn unverhofft in ein Jahrhundert verschlagen hatte, das er nur aus Büchern kannte, war er nicht sicher welche Folgen es für ihn haben könnte, wenn er sich vor der Tochter des Lairds bis zur Hüfte entkleidete.
Todesstrafe im schlimmsten, weitere Prügel im besten Fall? Doch sie bedeutete ihm schon mit einer ungeduldigen Handbewegung voranzumachen. Vielleicht war so etwas hier ja üblich- Also ließ er sein Plaid von der Schulter gleiten und streifte die beiden Hemden ab, die er übereinander trug.
Vor Kälte fröstelnd, reichte er ihr die Kleidungsstücke; als sie das Leinenbündel entgegennahm, trafen sich ihre
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