Vogelfrei
fotografiert hatte, als er noch sehr klein gewesen war. Dieses Pferd jedenfalls schnaubte bedrohlich und legte die Ohren an. Dylan biss die Zähne zusammen, ihm blieb wohl keine andere Wahl, als sich todesmutig in sein Verderben zu stürzen. Caitrionagh beobachtete ihn, also durfte er sich nicht wie ein Feigling benehmen. Er nahm all seinen Mut zusammen, griff nach den Zügeln, klammerte sich am Sattelknauf fest und schaffte es tatsächlich, einen Fuß in den Steigbügel zu schieben und sich unbeholfen in den Sattel zu hieven.
Das Pferd machte Anstalten zu bocken, doch Dylan drückte ihm beide Knie in den Leib, woraufhin es sich wieder beruhigte. Es trug ein paar lederne Satteltaschen, die wahrscheinlich Proviant enthielten; anscheinend würden sie eine ganze Weile fortbleiben. Malcolm trieb sein Pferd vorwärts und setzte sich an die Spitze der kleinen Gruppe, Una und Caitrionagh folgten ihm, und Dylan bildete die Nachhut. Langsam ritten sie zwischen den Torhäusern hindurch und dann über die Zugbrücke. Dylan hoffte, dass sein Pferd mit etwas Glück einfach den anderen folgen würde.
Auf der Zugbrücke drehte er sich noch einmal nach der Burg um; Sarah stand im Torbogen und winkte ihm nach. Dylan blieb nichts anderes übrig, als das Winken zu erwidern, er ahnte allerdings, dass er damit einen großen Fehler gemacht hatte.
Zuerst kamen sie nur langsam voran. Die beißende Kälte erschwerte das Atmen, und wenn sie durch ein Waldstück kamen, konnten sie oft nicht die Hand vor Augen sehen. Zwar war der Mond hinter den Berggipfeln aufgegangen, wurde aber häufig von den mächtigen Kiefern verdeckt.
War es hell genug, dann bemerkte Dylan, dass Caitrionagh sich öfter umschaute, als es für jemanden, der die Gegend gut kannte, nötig gewesen wäre. Jedes Mal drehte sie sich dabei auch zu ihm um, sagte aber kein Wort, sondern sah ihn nur an. Er wusste nicht, was er davon halten sollte, und der Pfad war zu schmal und uneben, um Seite an Seite mit ihr zu reiten und sich mit ihr zu unterhalten. Also lächelte er sie stets nur unsicher an, wusste allerdings nicht, ob sie das in dem schwachen Licht überhaupt wahrnehmen konnte.
Sein Pferd hatte die Angewohnheit, ständig den Kopf hochzuwerfen und dabei heftig zu schnaufen. Dylan kam es so vor, als würde ein gewaltiger Ballon zwischen seinen Knien aufgeblasen. Zuerst dachte er, dass er das Tier vielleicht zu stark in die Zange nahm, aber sobald er den Schenkeldruck lockerte, tänzelte das Biest zur Seite und warf erneut den Kopf hoch. Ließ Dylans Konzentration einmal nach, so blieb es hinter den anderen zurück oder versuchte, seitlich auszubrechen. Dylan fürchtete ernsthaft, abgeworfen oder an irgendeinem Ast oder Felsbrocken abgestreift zu werden, wenn er dem Tier die Zügel zu locker ließ. Doch im Laufe der Nacht verlor es allmählich die Lust an diesen Spielchen. Dylan hoffte, dass es gemerkt hatte, wer hier der Boss war, denn er wurde selbst langsam müde. Außerdem fror er jämmerlich und hätte gerne sein Plaid enger um sich geschlungen, doch er wagte es nicht, die Zügel loszulassen.
Der Weg stieg an, fiel wieder ab und schlängelte sich um zahllose Biegungen; Dylan hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Er lenkte sich ab, indem er auf Gälisch die Zahlen hersagte, die Sinann ihm beigebracht hatte. Bis neununddreißig waren sie schon gekommen.
Malcolm schien jedenfalls genau zu wissen, wo sie sich gerade befanden, und nach einigen Stunden ließ er die Gruppe halten. Sie hatten eine kleine, von knorrigen Kiefern umgebene Lichtung erreicht, wo allem Anschein nach schon viele Reisende gelagert hatten. An den Ascheresten in einer flachen, mit Steinen umrandeten Grube konnte sogar Dylan erkennen, wann zuletzt jemand hier gewesen war, nämlich nach dem letzten Regen, was in dieser Ge-gend eine Zeitspanne von einem oder zwei Tagen bedeutete. Malcolm stieg ab und steckte einen Finger in die Asche.
»Kalt. Letzte Nacht haben hier Leute gelagert.«
»Glaubst du, sie kommen zurück?«
Malcolm hielt nach anderen Spuren ihrer Vorgänger Ausschau, dann sagte er: »Warum sollten sie? Hier schlagen viele ihr Nachtlager auf, aber keiner lässt sich an diesem Ort auf Dauer häuslich nieder.«
Er ging zu Caitrionagh und ihrer Mutter, um ihnen beim Absitzen behilflich zu sein. Dylan nahm den Pferden derweilen die Satteltaschen ab und legte sie auf den Boden. Malcolm sah zu ihm hinüber. »Bring die Pferde dort drüben hin, da sind sie außer Sichtweite, und leg ihnen
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