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Vogelweide: Roman (German Edition)

Vogelweide: Roman (German Edition)

Titel: Vogelweide: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Timm
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präsent in der Hütte, machte es sich dann auf einem der Cocktailsessel bequem, dass er dachte, er habe den Verstand verloren. Es war kurz nach seiner Ankunft auf der Insel, Anfang April, nachts, der Wind rüttelte an den Wänden, Eisgraupel prasselten an die Fenster. Sie saß da, die Beine übereinandergeschlagen, und sah ihn erwartungsvoll an. Er wäre nicht überrascht gewesen, hätte er sie berühren können. Aber allein diese spontane Überlegung rückte sie wieder in die schemenhafte Ferne des Sich-Erinnerns.

    Zwei Monate, nachdem seine Firma in Konkurs gegangen war, hatte sie ihn durch ihren Assistenten anrufen lassen, und als er langsam begriff, wer ihn zu sprechen wünschte, nachdem der Assistent ihren Doppelnamen wiederholt hatte, dass es die Frau sein musste, die er manchmal im Fernsehen gesehen hatte, die mit drohender Dringlichkeit die angeblichen Meinungen der Bevölkerung in Zahlen und Prozenten ausdrückte, da hatte er nicht sofort aufgelegt, sondern aus Neugierde nachgefragt, worum es denn ginge. Sie bat um ein Gespräch. Gelesen habe sie, sagte der Assistent, seinen Essay über das Fragezeichen, den er in einer kleinen ambitionierten Zeitschrift veröffentlich hatte. Er war geschmeichelt gewesen. Die Zeitschrift hatte eine derart kleine Auflage, war auf stärkerem Papier gedruckt, darüber hinaus auch noch fadengeheftet, dass sie zurecht bibliophil und elitär genannt werden konnte. Er hatte sich zwanzig Exemplare erbeten, denn Honorare konnte der Herausgeber für die unregelmäßig erscheinenden, schmalen Hefte nicht zahlen. Ihr Erscheinen verdankte sie allein dem ererbten Geld der Frau des Verlegers.
    Eben dieser Zeitschrift hatte er einen Aufsatz über Jonas und den Wal versprochen, ein Vorhaben, das er nun schon seit Jahren verfolgte, aber auch hier auf der Insel nicht abschließen würde.
    Er hatte nach einigem Zögern zugesagt, sich mit der Frau in einem Café zu treffen, dessen Namen ihm immer sogleich einfiel, im Einstein .
    Sie kam, grauhaarig, in einem petrolfarbenen Kostüm und schnellen Schritts, in Begleitung ihres Assistenten auf ihn, der schon wartete, zu, ihr Fernsehgesicht war ein einziges Strahlen. Sie habe ihn, sagte sie, obwohl nie gesehen, sofort erkannt. Ich erkenne besondere Menschen, sagte sie. Der Assistent rückte ihr den Stuhl zurecht. Schön, dass Sie Zeit haben, sagte sie und sah ihn von unten mit einem offensiven Lächeln an.
    Eine Schlange, dachte er. Aber ihm wollte nicht einfallen, welche Steinplastik aus dem Mittelalter es war, die das zeigte – Dijon? Autun? –, eine Schlange mit einem weiblichen Kopf, der schräg gelegt von unten ein verführerisches Grinsen zeigt. Er hatte damals darüber nachgedacht, wie in einer so schlichten, stilisierten Ausführung ein derartiges Grinsen aufscheinen konnte.
    Er musste sich, als er ihr zuhörte, eingestehen, dass sie tatsächlich etwas Gewinnendes hatte. Ein Strom der Argumente, die Betonung am Ende des Satzes, ein feines Ausstoßen des Atems, ein Vorwärtsbeugen, Drehen des Kopfes, als wolle sie ihm den Nacken zeigen, eine dem Zuhörer gewährte Körpernähe. Ein Lachen, der Mund leicht geöffnet, gleichmäßige Zähne, die wahrscheinlich nicht echt waren, Implantate oder Brücken, aber derart gut gearbeitet, dass sie wie gewachsen und natürlich gealtert wirkten. Einen Moment lang hatte er die Befürchtung, sie könne aus dem Mund riechen, aber sie war fast geruchlos, nur ein unbestimmbarer Duft, wahrscheinlich von einem Deodorant, ging von ihr aus. Sie habe mit großem Interesse gelesen, wie sich dieses Satzzeichen langsam aus dem Quaestio entwickelte, wie es in der Aufklärung an Zahl zunahm, dort tatsächliche Fragen herausstellte, die offene Fragen wurden, diese betonte, hervorhob, besonders beeindruckt habe sie die kurze Analyse der Frage in Die Leiden des jungen Werthers, in dem ja alles infrage gestellt scheint, vor allem das Gefühl, ob es denn wahr und wirklich sei, wie dagegen in der gegenwärtigen Literatur mit Ausnahme von Arno Schmidt das Fragen und damit auch das Fragezeichen immer weiter abnehme – Arno Schmidt, er sei leider nicht ihr Autor – ja, sie sagte ihr –, aber was sie dann regelrecht aufgeschreckt habe, sei dieser Bezug zu dem nicht mehr Fragen-können gewesen, dem Nicht-mehr-Ausforschen, dem Urteilen vor dem Abwarten, wie Fragesätze sich in Aussagesätze verwandelten. Und sie zog ein kleines Notizbuch aus der Kostümtasche, ihm fiel auf, dass sie keine Handtasche bei sich trug, und las

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