Vogelwild
Anorak, dessen Reißverschluss die Frau wohl auch bei Wärme geschlossen
gehalten hatte, und eine löchrige Jogginghose. An einem Fuß trug sie einen
schwarzen Gummischuh, eine Art Stiefel ohne Schaft, der andere, so vermutete
Morgenstern, schwamm wahrscheinlich noch in der Grube.
»Ähm, und die Hände, ich habe es am Funk ja schon
gesagt, sind auf ihrem Rücken zusammengebunden«, meldete sich jetzt einer der
Streifenbeamten. »Mit einer seltsamen Schnur mit einem Holzstückchen an jedem
Ende.«
Alle Anwesenden schauten Morgenstern auffordernd an,
der als Kriminaler wohl am ehesten dafür zuständig war, die Tote umzudrehen.
Der Oberkommissar wurde blass und zögerte, dann aber überwand er sich, packte
die Frau behutsam an Schulter und Hüfte und drehte sie in die Seitenlage.
Keiner sagte ein Wort. Alle starrten auf die bronzefarbenen Handgelenke, die
über Kreuz zusammengebunden waren.
Der Mann der Mesnerin fand als Erster die Sprache
wieder: »Das ist ein Garbenstrick. So etwas hat man früher in der
Landwirtschaft benutzt, um das Getreide zusammenzubinden. Heute ist das schon
längst veraltet, aber die Carola hat nie etwas weggeworfen. Die Stricke liegen
hier auf dem Hof sicherlich noch zu Hunderten herum.«
»Also handelt es sich dabei nicht um etwas, was der
Täter mitgebracht haben muss?«, vergewisserte sich Hecht.
»Nein, der ist mit Sicherheit hier vom Anwesen. Das
erkenne ich auf den ersten Blick.«
Während noch immer dumpf die Totenglocke läutete,
wandte sich Morgenstern der Öffnung der Güllegrube zu, einem etwa siebzig mal
siebzig Zentimeter großen Loch. Daneben lagen zwei dicke Abdeckbretter, wohl
aus Eiche oder Buche. In einer Tiefe von etwa einem Meter schwappte eine
dunkle, scharf stinkende Brühe.
»Wie habt ihr sie eigentlich rausgekriegt?«, fragte
Huber die Streifenbeamten.
»Mit diesem Ding da.« Der eine deutete auf eine lange
Holzstange, an deren Ende ein blecherner Schöpfeimer befestigt war. »Haben es nur
mit Müh und Not geschafft und uns dabei total eingesaut.«
»Danke, Männer«, lobte Huber einfühlsam. »Einer von
euch bleibt jetzt bitte bei der Toten, wir anderen sollten uns mal im Haus
umsehen.«
»Die Haustür«, sagte ein Beamter, »war von innen mit
einem Riegel zugesperrt, den habe ich aufgemacht.«
Der breite, mit Steinplatten ausgelegte Hausflur
empfing sie mit modrigem Geruch, die Wände säumten Plastiktüten mit ungewissem
Inhalt. Von hier aus führte die erste Tür rechts in die Küche, die dem Anschein
nach als zentraler Wohnraum gedient hatte. Morgenstern fühlte sich um fünfzig,
vielleicht sogar um hundert Jahre in der Zeit zurückversetzt. »Wie im Museum!«,
entfuhr es ihm. Gleich neben der Eingangstür befand sich ein durchgesessenes,
speckiges Sofa, dazu gab es einen groben, dunkelgrün lackierten Holztisch mit
einer ebensolchen Bank, in der Ecke stand ein gusseiserner Ofen, und die Wand
zierte ein großes, kitschiges Bild der Heiligen Familie in einem
Birkenwäldchen. In der anderen Ecke befand sich ein Waschbecken, über dem ein
stumpf gewordener, schlichter Spiegel hing. Ein riesiges Röhrenradiogerät nahm
die gesamte Abstellfläche eines Holzbords ein. Darüber hing ein Monatskalender,
nach den großen Fotos zu urteilen offenbar das Werbegeschenk eines Traktorenherstellers.
Auf dem aufgeschlagenen Bild fuhr ein grüner Schlepper durch eine bayerische
Landschaft, eine tief verschneite Winterlandschaft, wie Morgenstern irritiert
feststellte. Ein näherer Blick zeigte, dass es sich um das Monatsblatt für den
Januar handelte. Den Januar des Jahres 1986.
»Ich kann mir beim besten Willen nicht erklären, wer
die Messmer-Carola umbringen würde«, stammelte der Bürgermeister, ein
gemütlicher, dicker Mann Mitte fünfzig, der nun ebenso blass wie alle anderen
war. »Die hat doch keiner Menschenseele etwas zuleide getan.« Natürlich, im
Laufe der Jahre sei sie immer wunderlicher geworden, seit ihre Eltern kurz
nacheinander verstorben waren. Wann das passiert sei? Nun, das müsse so um 1985
gewesen sein. Auch die Eltern seien allerdings schon »ziemlich komisch«
gewesen, räumte der Bürgermeister ein. »Man muss sich hier nur einmal
umschauen, dann bekommt man davon eine Vorstellung. Im ganzen Haus gibt es nur
einen einzigen Wasserhahn, nämlich den hier«, sagte er und deutete zum Waschbecken.
»Kalt.« Die Küche sei bis heute der einzige beheizbare Raum geblieben, die
Eltern seien krankhaft sparsam gewesen, und die Tochter habe das
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