Vogelwild
war
dunkelbraun lackiert. Kackbraun, lautete Morgensterns erster Eindruck. Kein
Tisch, kein Stuhl, keine Fotos, hier gab es keinerlei persönliche Dinge. Einzig
und allein über dem Bett hing in einem goldenen Rahmen ein kitschiges Gemälde,
auf dem ein Schutzengel mit großen weißen Flügeln ein Mädchen mit blonden
Zöpfen über ein wackliges Brücklein geleitete. Auf dem Nachttisch lag
aufgeschlagen ein kleines, dickes Buch mit hellblauem Einband.
»Die Bibel«, sagte Morgenstern, als er es inspiziert
hatte. »Was sonst? Und sogar darin gelesen hat sie! Ist aber anscheinend nicht
weit gekommen.« Pietätlos klappte er das Buch wieder zu und legte es an seinen
Platz zurück. Dabei bemerkte er, dass unter dem Bett eine Pappschachtel
herausschaute. Morgenstern bückte sich, wobei sich der Druck in seiner
angeschlagenen Stirn schmerzhaft verstärkte, und holte den Karton hervor. Es
war der untere Teil einer alten Bananenkiste – er war leer, nur der Boden war mit
einer vergilbten Zeitung ausgeschlagen. Morgenstern wollte die Schachtel schon
wieder zurückschieben, als er aus dem Augenwinkel heraus bemerkte, dass auf der
obersten Zeitungsseite in dicken Buchstaben ein Schlagwort prangte, das ihn
stocken ließ: Tschernobyl. Es waren die Seiten einer Ausgabe der Lokalzeitung
vom April 1986. Der Oberkommissar dachte nach. Frühling 1986? Er erinnerte sich
noch gut daran, viel zu gut. Damals hatte er mitten in der Polizeiausbildung
gesteckt. Fast jedes Wochenende wurde in Wackersdorf in der Oberpfalz gegen
eine geplante atomare Wiederaufbereitungsanlage für Atommüll demonstriert, es
gab schreckliche Krawalle. Er und Hunderte anderer junger Polizisten wurden
damals fast jedes Wochenende zur Schlacht an den Bauzaun der » WAA « abkommandiert. Und plötzlich war das ganze
Großprojekt von der Wirtschaft abgeblasen worden. Außer Spesen nichts gewesen,
dachte Morgenstern bitter. Damals, 1986, hatte es in der Ukraine, in
Tschernobyl, einen Atomunfall gegeben, der ganz Europa erschütterte. Und hier
in Mörnsheim hatte Carola Messmer in diesen Tagen etwas in eine mit
Zeitungspapier ausgelegte Bananenkiste getan und es unter ihr Bett geschoben.
»Ist der Bürgermeister noch da?«, fragte Morgenstern.
Huber trat auf den Flur und rief nach ihm. Ächzend kam der Gemeindechef die
Treppe hinauf.
»Herr Bürgermeister, wann sind die Eltern von Carola
Messmer gestorben? Irgendwann im Jahr 1985, haben Sie doch vorhin gesagt.
Können Sie das vielleicht genauer eingrenzen?«
»Dafür müssen wir bloß im Rathaus nachschauen, kein
Problem. Lassen Sie mich mal nachdenken. Zuerst ist die Mutter gestorben, und
zwei Wochen danach ist ihr der Xaver ins Grab gefolgt. Es war wohl auch das
Beste für den alten Mann. Was hätte der auch allein mit der Carola gemacht? Der
konnte sich ja noch nicht mal um sich selber kümmern. Ich glaube, das war im
Winter. Um die Weihnachtszeit herum. Ich kann mich noch an die beiden
Beerdigungen erinnern, denn von jedem Haushalt im Dorf muss auf dem Friedhof
eine Person dabei sein, so ist der Brauch. Damals war es scheußlich kalt, das
weiß ich noch. Ein äußerst strenger Winter.«
»Das passt alles irgendwie zusammen«, sagte
Morgenstern. »Unten der Bulldog-Kalender, der seit dem Januar 1986 nicht mehr
umgeblättert wurde. Und hier die Zeitung vom April 1986. Was hat die Carola
gemacht, nachdem ihre Eltern gestorben waren?«
»Getrauert, würde ich mal sagen«, meinte der
Bürgermeister. »Und so lange alleine die Kühe versorgt, bis es irgendwann nicht
mehr ging.«
»Und sie muss sich um den Nachlass gekümmert haben«,
vermutete Morgenstern. »Einen Nachlass, zu dem auch ein Archaeopteryx gehörte.
Denn wenn ich Sie richtig verstanden habe, war der nur verliehen.«
»Wenn wir den Gerüchten Glauben schenken, dann ja.«
»Dann wäre es doch denkbar, dass Frau Messmer den
wertvollen Vogel zurückverlangt hat, aus welchen Gründen auch immer?«
Jetzt schaltete sich Hecht ein, der bisher nur
zugehört hatte. »Wenn du recht hast, dann brauchen wir doch bloß im
Priesterseminar nachzufragen. Die müssen doch wissen, ob sich die Frau den
Archaeopteryx nach Hause geholt hat. So ein Ding gibt man schließlich nicht
einfach so aus der Hand. Und wenn Familie Messmer so schwierig im Umgang war,
dann wird sich doch bestimmt noch jemand daran erinnern.«
»Stimmt, da brauchen wir uns jetzt eigentlich gar
nicht weiter den Kopf zu zerbrechen«, lobte Morgenstern. »Und wenn es
tatsächlich so war, dass unter
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