Volk der Finsternis - Horrorgeschichten (H. P. Lovecrafts Bibliothek des Schreckens) (German Edition)
ihn mit einem Knüppel nieder. Dann hat Cagle auf meinen Bruder geschossen, und … und bevor er davonrannte, schwor er, dass er sich auch an mir rächen würde. Er ist wie ein wildes Tier!«
»Womit hat er dir gedroht?« Ich ballte unwillkürlich die Fäuste.
»Er hat gesagt, er wird eines Nachts zurückkommen und mich holen, wenn die Wälder am dunkelsten sind«, antwortete sie schwach, und mit einem Fatalismus, der mich ebenso überraschte wie bestürzte, fügte sie hinzu: »Und das wird er auch tun. Wenn ein Mann wie er sich ein Mädchen erwählt, dann kann nur der Tod ihn davon abhalten, dass er es sich auch nimmt.«
»Dann wird der Tod ihn auch davon abhalten«, erwiderte ich harsch und erhob mich. »Ich werde mich dem Suchtrupp anschließen. Verlass’ heute Nacht nicht das Haus. Morgen früh wird Joe Cagle keiner Frau je wieder etwas antun können.«
Als ich aus dem Haus trat, begegnete ich einem der Männer, die nach dem Flüchtigen suchten. Er hatte sich in der Dunkelheit an einer vergrabenen Wurzel den Knöchel verstaucht und sich ein Pferd geliehen, um ins Lager zurückzukehren.
»Nein, wir haben noch überhaupt keine Spur von ihm«, antwortete er auf meine Frage. »Wir haben das ganze Gelände rund um das Lager durchkämmt, jetzt suchen die Jungs bei den Sümpfen weiter. Aber eigentlich kann er mit dem kleinen Vorsprung nicht so weit gekommen sein, wir sind ihm ja gleich mit den Pferden hinterher. Joe Cagle ist ein Lump, ein widerliches Tier, kein normaler Mensch – er sieht aus wie ein Gorilla. Ich glaube, er versteckt sich in den Sümpfen, und falls das zutrifft, dann kann es Wochen dauern, bis wir ihn aufstöbern. Er kann sonst nirgendwo sein, wie schon gesagt. Wir haben überall in den Wäldern gesucht – außer im verlassenen Haus natürlich.«
»Warum nicht? Wo steht dieses Haus?«
»Unten an der alten Transportstraße, die nicht mehr benutzt wird, ungefähr vier Meilen von hier. Oh nein, im ganzen Land gibt es keinen Menschen, der freiwillig dorthin gehen würde, und wenn es um sein Leben ginge. Dieser Kerl, der vor ein paar Jahren den Vorarbeiter umgebracht hat – sie haben ihn die Straße runtergejagt, und als er sah, dass er direkt am verlassenen Haus vorbei musste, wenn er entkommen wollte, hat er sich umgedreht und sich dem Mob freiwillig ergeben. Nein, Sir, Joe Cagle ist sicher nicht mal in der Nähe dieses Hauses, darauf können Sie wetten!«
»Weshalb hat es so einen schlechten Ruf?«
»Dort wohnt seit zwanzig Jahren niemand mehr. Der letzte Besitzer ist eines Nachts durch ein Fenster im oberen Stockwerk gekracht. Er hat den Sturz nicht überlebt. Irgendwann später wollte ein junger Mann auf der Durchreise wegen einer Wette die ganze Nacht dort verbringen – man fand ihn am nächsten Morgen vor dem Haus, völlig zerschmettert, so als sei er sehr tief gefallen. Irgendein Hinterwäldler, der spät in der Nacht in der Nähe des Hauses vorbeikam, behauptete, er habe einen schrecklichen Schrei gehört und gesehen, wie der junge Mann aus einem Fenster im zweiten Stock flog. Er hatte genug gesehen und gemacht, dass er wegkam! Aber woher das verlassene Haus seinen schlechten Ruf ursprünglich hat …«
Ich war nicht in der Stimmung für eine lange, ausgeschmückte Geistergeschichte oder was immer der Mann mir auch erzählen wollte. Ein »Spukhaus« gibt es fast in jedem Ort im Süden, und um jedes einzelne ranken sich unzählige Legenden.
Ich unterbrach ihn und fragte, wo ich die Gruppe des Suchtrupps, die am tiefsten in den Kiefernwald vorgedrungen war, wohl finden könnte. Nachdem er mir den Weg beschrieben hatte, nahm ich ihm das Versprechen ab, auf Joan aufzupassen, bis ich wieder zurückkehrte. Dann stieg ich auf sein Pferd und ritt davon.
»Verirren Sie sich nicht«, rief er mir nach. »Diese Kiefernwälder sind tückisch für Fremde. Halten Sie nach den Fackeln des Suchtrupps zwischen den Bäumen Ausschau. Und nehmen Sie nicht die alte Nebenstraße!«
In strammem Galopp erreichte ich bald eine Kreuzung, an der eine Straße in jene Richtung des Waldes führte, in die ich wollte. Ich hielt an. Eine weitere Straße, nicht viel mehr als ein schlecht zu erkennender Pfad, bog im rechten Winkel ab. Es war die alte Transportstraße, die zum verlassenen Haus führte. Ich zögerte. Im Gegensatz zu allen anderen war ich nicht so überzeugt davon, dass Joe Cagle diesen Ort meiden würde. Je mehr ich darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher schien es mir, dass der Flüchtige sich
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