Volk der Finsternis - Horrorgeschichten (H. P. Lovecrafts Bibliothek des Schreckens) (German Edition)
Hände meinen Kopf anhoben und mir über das Gesicht streichelten. Mit geschlossenen Augen lag ich völlig ruhig, um mich zu orientieren, doch ich konnte mich nicht daran erinnern, wo ich mich befand oder was geschehen war. Doch dann schwappte die Erinnerung wie eine Welle über mich hinweg. Vermutlich war in meinen Augen ein wildes Flackern zu sehen, als ich mit großer Anstrengung versuchte, mich aufzusetzen.
»Steve, oh, Steve! Du bist verletzt!«
Anscheinend war ich wahnsinnig geworden, denn diese Stimme gehörte Joan! Aber – nein! Mein Kopf lag in ihrem Schoß, und mit ihren großen dunklen Augen, die vor Tränen glänzten, blickte sie zu mir herab.
»Joan! Was, um Himmels willen, machst du hier?«
Ich setzte mich auf und zog sie in meine Arme. Mein Kopf dröhnte so stark, dass mir beinahe übel wurde, außerdem war ich völlig zerschrammt und mein ganzer Körper schmerzte. Über uns ragten die schrecklich finsteren Mauern des verlassenen Hauses auf, und über dem zerstörten Dornenbusch, neben dem ich lag, konnte ich das dunkle Fenster sehen, aus dem ich gestürzt war. Ich musste lange Zeit dort gelegen haben, denn der Mond stand nun blutrot am westlichen Horizont.
»Dein Pferd ist ohne Reiter zurückgekommen. Ich konnte nicht einfach dasitzen und warten – also habe ich mich aus dem Haus geschlichen und bin hierhergekommen. Man sagte mir, du hättest dich dem Suchtrupp anschließen wollen, aber das Pferd ist über die alte Transportstraße gekommen. Es war niemand da, den ich hätte schicken können, also habe ich mich selbst auf den Weg gemacht.«
»Joan!« Die Freude, sie hier zu sehen – zart und verzweifelt, zerbrechlich und doch so voller Liebe – füllte mein ganzes Herz aus. Wieder drückte ich sie fest an mich und küsste sie wortlos.
»Steve …« Ihre leise Stimme klang verängstigt. »Was ist mit dir passiert? Als ich angeritten kam, hast du in diesem Dornenbusch gelegen, bewusstlos …«
»Ich verstehe … Es ist reines Glück, dass ich nicht auch tot bin – wie die beiden anderen Männer, die aus einem der Fenster gestürzt sind! Sag’ mir, Joan – was ist vor zwanzig Jahren in diesem Haus geschehen, dass ein so furchtbarer Fluch auf ihm lastet?«
Joan erschauderte. »Ich weiß es nicht. Die Leute, denen es vor dem Krieg gehörte, mussten es danach verkaufen. Offensichtlich haben die neuen Bewohner es völlig verfallen lassen. Kurz vor dem Tod des letzten Eigentümers ist aber etwas Seltsames passiert: Ein riesiger Menschenaffe ist aus einem Zirkus, der damals durch die Gegend zog, entwischt und hat Zuflucht in dem Haus gesucht. Das arme Tier hatte unter schrecklichen Misshandlungen zu leiden, und als seine Besitzer versuchten, es wieder einzufangen, wehrte es sich so heftig, dass sie es töten mussten. Das war vor über zwanzig Jahren. Kurz darauf stürzte der Hausbesitzer aus einem der oberen Fenster und starb. Man nahm an, dass er sich umgebracht hat oder geschlafwandelt war, aber …«
»Nein!« Mich durchfuhr plötzlich ein eiskalter Schauer. »Er wurde von einem Ding durch sämtliche Zimmer dieses Hauses gejagt, das so schrecklich war, dass selbst der Tod ein willkommener Ausweg zu sein schien. Und dieser junge Mann auf der Durchreise – ich weiß, was ihn getötet hat. Und Joe Cagle …«
»Joe Cagle!« Joan fuhr erschrocken hoch. »Wo …?«
»Keine Angst – er kann dir nichts mehr tun. Bitte frag’ mich dazu nichts mehr. Nein, ich habe ihn nicht getötet. Sein Tod war schrecklicher als irgendein Ende, das ich ihm hätte bereiten können. Es scheint Welten und Schatten von Welten zu geben, von denen wir nicht das Geringste wissen, und in den finsteren Schatten unserer eigenen Welt lauern bestialische irdische Geister, die ihre Zeit bereits weit überdauert haben. Komm, lass uns gehen.«
Joan hatte ein zweites Pferd mitgebracht und die Tiere ein Stück vom Haus entfernt angebunden. Ich bat sie, aufzusteigen, und trotz ihrer ängstlichen Einwände kehrte ich noch einmal zur Villa zurück. Ich wagte mich jedoch nur bis auf Höhe des ersten Fensters im ersten Stock heran und blieb nur wenige Augenblicke stehen. Danach stieg auch ich auf mein Pferd, und gemeinsam ritten Joan und ich auf der alten Transportstraße zurück. Die Sterne verblassten langsam, und im Osten wurde der Himmel im Licht des kommenden Morgens immer heller.
»Du hast mir noch nicht gesagt, wovon dieses Haus heimgesucht wird«, sagte Joan mit flüsternder Stimme, »aber ich kann es mir denken. Was
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