Volk der Finsternis - Horrorgeschichten (H. P. Lovecrafts Bibliothek des Schreckens) (German Edition)
Fesseln waren zu stramm, und meine Schreie verhallten in der endlosen Leere der Höhle. Mir war heiß, und dennoch trat kalter Schweiß auf meine Stirn. In meiner Qual verfluchte ich den toten Hindu ebenso wie meine Folterknechte und meine eigene Raffgier, und in einem Anfall sinnlosen Wahnsinns verfluchte ich schließlich alles und jeden.
Dann lag ich nur noch erschöpft und ganz ruhig da und beobachtete die gefangene Schlange mit denselben starren Augen, mit denen sie auch mich anblickte. Ich drehte meinen Kopf zur Seite, wollte mich weigern, meinem Schicksal ins Auge zu sehen, aber mein Blick wurde unweigerlich immer wieder davon angezogen und blieb daran hängen. Ich dachte darüber nach, an welcher Stelle meines Körpers das Schicksal schließlich zuschlagen würde; mein linkes Handgelenk lag dem Tier am nächsten – dort würde es zubeißen, auf der Außenseite, direkt oberhalb der Hand.
Die Zeit verging; ich war erstaunt, mit welcher Ausdauer und Beharrlichkeit die große Schlange immer wieder nach vorne schoss. Sie stürzte sich nun zwar nicht mehr so oft auf mich, aber trotzdem noch regelmäßig. Stück für Stück, ganz langsam, aber unübersehbar, dehnte sich der Fellriemen aus. Das Tier war nun nur noch wenige Zentimeter von meinem Handgelenk entfernt. Angesichts meines immer näher rückenden Untergangs schien sich meine Haut zusammenzuziehen, sie schien förmlich zu schrumpfen, und das Blut gefror in meinen Adern. Heftige Übelkeit überkam mich. Dann flackerte plötzlich die Öllampe auf und erlosch.
Ein neuer Schrecken erfasste mich; der Tod in der Dunkelheit ist noch schlimmer als der Tod bei Licht, auch wenn es nur das Licht einer Öllampe ist. Ich schrie, wieder und wieder, bis meine Stimme mich schließlich im Stich ließ. Ich konnte das Ächzen des Riemens hören, der sich immer weiter ausdehnte, immer länger und länger, und plötzlich spürte ich den abscheulich stinkenden Atem des Biestes an meinem Handgelenk. Aber noch konnte es mich nicht erreichen – und mit einem Mal lag die Höhle in Licht getaucht, Männer brüllten, ein Pistolenschuss krachte, und ich versank in eine tiefe Ohnmacht.
Tagelang lag ich in einem Delirium des Wahnsinns und durchlebte das Grauen erneut. Mein Haar war an den Schläfen weiß geworden. Ich war so knapp entkommen, dass ich es selbst nicht glauben konnte, und während ich im Fieberwahn lag, war ich die ganze Zeit der Überzeugung, das Opfer jener Art von Halluzinationen zu sein, die manchmal im Angesicht des Todes auftreten.
Eine Gruppe von Tigerjägern – Weiße, von denen ich nicht einmal wusste, dass sie sich ebenfalls im Land aufhielten – hatte meine Todesschreie gehört und war gerade noch rechtzeitig hinzugekommen. Die Männer leuchteten die Höhle mit ihren Taschenlampen aus, und einer von ihnen erschoss die Kobra, die mich – da bin ich sicher – bei ihrem nächsten Vorstoß erreicht hätte.
Ich verließ Indien, so schnell ich konnte. Noch heute wird mir übel, sobald ich eine Schlange sehe. Aber es war noch nicht vorbei. Nach einigen Monaten hatte ich in unregelmäßigen Abständen diese Träume, zwischen denen stets mehrere Monate lagen und die zunächst sehr vage und chaotisch waren. Oft erwachte ich schweißgebadet und fand die ganze Nacht keinen Schlaf mehr.
Dann wurden die Träume langsam klarer und außergewöhnlich anschaulich, und sie traten immer häufiger auf. Sie überschatteten mein ganzes Leben. In all diesen Träumen zeichnete sich jede einzelne Kleinigkeit unglaublich deutlich ab.
Seither habe ich denselben Traum Hunderte Male geträumt, jedes Mal auf dieselbe Weise. Der Traum beginnt sehr abrupt: Ich liege wieder auf dem staubigen Boden von Alam Singhs Höhle, über mir flimmert und flackert das Licht der Öllampe, und dieser schuppige Teufel stürzt sich immer wieder mit seinem langen, furchteinflößenden Körper auf mich. Bis vor einer Weile endete der Traum jedoch immer urplötzlich, kurz bevor die Öllampe erlöschen würde. Aber ich kann sehen, dass der Riemen immer länger wird – und ich sage dir, er dehnt sich von Traum zu Traum immer weiter! Bei den ersten paar Malen war die Schlange noch relativ weit von mir entfernt, der Riemen hatte sich noch kein bisschen in die Länge gezogen. Dann dehnte er sich ganz langsam weiter aus, aber erst nach dreißig oder vierzig Träumen hatte sich die Schlange mir um zwei oder drei Zentimeter genähert. In letzter Zeit wird der Riemen jedoch erschreckend schnell unaufhaltsam
Weitere Kostenlose Bücher