Volk der Finsternis - Horrorgeschichten (H. P. Lovecrafts Bibliothek des Schreckens) (German Edition)
standen sie da, im frühen Licht der Morgendämmerung, sprachlos über die Erscheinung, die aus der Finsternis des düsteren Ozeans auftauchte.
Immer weiter schwebte die Galeere, und ihre Ruder sausten durch das Wasser. Dann, noch ehe sie die flachen Gewässer erreicht hatte – Krach! – wurde die Bucht von einem schrecklichen Hall erschüttert. Das düstere Schiff schien vor unseren Augen zu zerfließen …
Schließlich war es verschwunden, und an der Stelle, an der es eben noch gelegen hatte, wirbelte das grüne Wasser, obwohl kein Treibholz zu sehen war und auch nie welches ans Ufer geschwemmt wurde. Es wurde jedoch etwas anderes angeschwemmt, das weitaus schrecklicher war als Treibholz!
Unter dem Raunen aufgeregter Stimmen gingen wir an Land. Aber plötzlich verstummten sie alle. Moll Farrell stand vor ihrer Hütte. Finster zeichnete sie sich im geisterhaften Licht der Dämmerung ab, und mit ihrem dürren Finger zeigte sie auf das Meer hinaus. Und dort, hinter dem seufzenden, nassen Sand, trieb, getragen von der grauen Brandung, etwas an Land, etwas, das die Wellen Moll Farrell zu Füßen legten. Als wir uns um sie scharten, starrten zwei blinde Augen aus einem ruhigen, weißen Gesicht zu uns herauf. John Kulrek war nach Hause gekommen.
Still und abstoßend lag er da, geschaukelt von den sanften Wellen. Als er von den Wogen auf die Seite gerollt wurde, sahen alle den Dolch, der in seinem Rücken steckte – den Dolch, den wir alle schon tausendmal am Gürtel von Lügenmaul Canool gesehen hatten.
»Ja, ich habe ihn getötet!«, brach es kreischend aus Canool heraus, und er wand und krümmte sich förmlich unter unseren Blicken. »Es war in einer ruhigen Nacht auf See. Wir waren betrunken und prügelten uns, und da habe ich ihn erstochen und über Bord geworfen! Er ist mir über das weite Meer gefolgt …« Seine Stimme war nun nur noch ein grässliches Flüstern. »Denn … wegen … des … Fluches … konnte … das … Meer … seine … Leiche … nicht … behalten!«
Damit sank der Lump zitternd zu Boden, und in seinen Augen spiegelte sich bereits der Schatten des Galgens wider.
»Ja!«, sagte Moll Farrell mit starker, tiefer, triumphierender Stimme. »Aus der Hölle der verlorenen Schiffe hat Satan ein Schiff aus vergangenen Zeiten gesandt! Ein Schiff, rot von Blut und befleckt mit der Erinnerung an abscheuliche Verbrechen! Kein anderes Schiff hätte die Leiche eines so niederträchtigen Mannes tragen können! Das Meer hat Rache genommen, und auch mir die meine geschenkt. Seht nun, wie ich John Kulrek ins Gesicht spucke!«
Mit einem grauenhaften Lachen warf sie sich nach vorne, und ihre Lippen färbten sich blutrot, als über dem ruhelosen Meer die Sonne aufging.
Aus der Tiefe
Adam Falcon stach bei Sonnenaufgang in See, und Margaret Deveral, die Frau, die er heiraten wollte, stand im kalten Nebel auf dem Kai und winkte ihm zum Abschied. Bei Sonnenuntergang kniete Margaret mit versteinertem Blick über der reglosen weißen Gestalt, die die kriechenden Brandungswellen an den Strand gespült und verkrümmt hatten liegen lassen.
Die Einwohner der kleinen Stadt Faring scharten sich flüsternd um sie. »Der Nebel hing schwer über dem Wasser … vielleicht ist er auf dem Geisterriff aufgelaufen. Seltsam, dass nur seine Leiche zurück in den Hafen von Faring getrieben ist – und so schnell.«
Jemand murmelte: »Er wollte zu ihr zurückkehren – lebendig oder tot!«
Die Leiche lag oberhalb der Flutmarke – so als sei sie von einer mächtigen Welle dorthin geworfen worden – schlank, zu Lebzeiten jedoch kräftig und männlich, und selbst im Tode noch düster attraktiv. Die Augen waren geschlossen, und auch wenn es seltsam klingt, sah es aus, als schliefe er nur. An der Seemannskleidung, die er trug, hingen Fetzen von Meeresalgen.
»Merkwürdig«, murmelte der alte John Harper, der Inhaber des Sea Lion Inn und der älteste ehemalige Seemann in Faring. »Er ist tief hinabgesunken, denn diese Algen wachsen nur am Grund des Ozeans, da bin ich sicher – nur in Meereshöhlen, in denen man auch Korallen findet.«
Margaret sagte kein Wort, sie kniete nur da, die Hände an ihre Wangen gepresst, mit weit aufgerissenen, leeren Augen.
»Nimm ihn in die Arme, Kind, und gib ihm einen Kuss«, drängten sie die Bürger von Faring sanft, »denn das hätte er sich auch gewünscht, wenn er noch am Leben wäre.«
Das Mädchen gehorchte mechanisch, und als sie seinen kalten Körper spürte, durchfuhr sie ein
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